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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1:Ich glaube es war Mord... 19
Kapitel 2:Ich weiß, es war keine Liebe...34
Kapitel 3:Ich hoffe, es hält ewig...72
Kapitel 4:Ich denke, es war eine glückliche Zeit...95
Kapitel 5:Ich absolviere meinen ersten Einsatz...144
Kapitel 6:Ich kniee vor Friedrich dem Großen...163
Kapitel 7:Ich bin überrascht...183
Kapitel 8:Ich hüte mich in Zukunft vor dem Heurigen... aber Wien ist eine Reise wert...219
Kapitel 9:Ich lerne meinen Wert kennen...240
Kapitel 10:Ich treffe die größte Herrscherin Europas...267
Kapitel 11:Ich weiß, was Flucht bedeutet...282

 

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Rediroma Verlag

Amazon

ISBN: 978-3-96103-386-7
Preis: 14,95

Unsichtbare Tinte [Leseprobe]

Sophia Potocka, die berühmte Spionin im Auftrag von Katharina der Großen



.

.

.

Kapitel 1

„Ich glaube es war Mord….“

„Mama…“, sagte Sophia mit belegter Stimme, „…was ist bloß mit

Ayaz los?“

Die Mutter von Sophia blickte von ihrer Handarbeit auf, „Was soll

mit ihm los sein?“ fragte sie unwirsch dagegen.

„Es ist jetzt Sonntagabend und seit Freitag habe ich nichts mehr

von ihm gehört“, sagte Sophia.

„Was du immer hast mit deinem Ayaz“, bemerkte die Mutter beiläufig

und setzte ihre Handarbeit unbeirrt fort, während ihre Hand

leicht zitterte. Sie stickte an einer Tischdecke, die sie für ihre

Schwester Zehra als Geburtstagsgeschenk vorgesehen hatte.

„Ich habe Ayaz seit Freitag nicht mehr gesehen. Er war gestern

nicht da und hat mich auch heute nicht besucht.“

„Was wird schon sein….“, sagte die Mutter wegwerfend „….er

hatte wahrscheinlich keine Zeit“.

„Wie du weißt…“, sagte Sophia, „…Ayaz hat mich jeden Tag zumindest

in den letzten Monaten besucht, denn wir haben eben viele

Gemeinsamkeiten.“

Ayaz war drei Jahre älter als die elfjährige Sophia und er hatte

diese in den letzten Monaten tatsächlich jeden Tag besucht. Oft las

Ayaz der Sophia aus dem Koran vor oder er erzählte ihr lustige

Geschichten, die er in seiner Schule erlebt hatte oder Interessantes,

das er aus der Geschichte der Stadt Bursa wusste.

Bereits seit zwei Jahren war insbesondere auf Betreiben von Sophias

Vater Konstantin Glavoni Ayaz zur späteren Verheiratung mit

seiner Tochter Sophia vorgesehen. Das wiederum passte Sophias

Mutter überhaupt nicht ins Kalkül, denn Ayaz kam aus einer nicht

gerade begüterten Familie und war vom Vater nur deshalb zum

Schwiegersohn auserwählt, weil er zum Einen der Sohn seines früheren

Schulfreundes war und zum Anderen Charaktereigenschaften

besaß, die Vater Konstantin als wichtiger erachtete als irgendwelche

Vermögenswerte.

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Ganz anders dachte die Mutter. Sie hielt schon immer Ausschau

nach einem reichen wohlhabenden Knaben, der allerdings in der

Stadt Bursa nicht ohne weiteres zu finden war.

Bursa liegt zwei Tagesritte südlich von Istanbul zu Füssen des UludaĝGebirges, das früher den Namen Bithynischer Olymp trug.

Bursa liegt eingebettet in eine grüne Landschaft, in der einige heilkräftige

Schwefelquellen entspringen. Die Küste des Marmarameeres

mit der Bucht von Gemlik liegt einen Tagesritt nicht weit entfernt

und diente der Familie Glavoni ein oder zweimal im Jahr als

Ferienaufenthalt und auch um die Schwester von Sophias Mutter,

Tante Zehra, ein paar Tage zu besuchen.

Bursa war seit 1326 als der Sultanssohn und spätere Sultan Orhan

I. die Stadt am 6. April eroberte, die Hauptstadt des osmanischen

Reiches. 1402 wurde Bursa von den Mongolen unter Timur Lenk

verwüstet. Dabei fiel den Horden der Mongolen ein Großteil des

osmanischen Staatsschatzes in die Hände, was oft ein Thema zwischen

Ayaz und Sophia war und für spannende Unterhaltung der

beiden sorgte. Sehenswürdigkeiten von Bursa waren das Grabmal

von Sultan Mehmed I. die Yeşel türbe sowie die zwischen 1380 und

1420 errichteten Moscheen, die Große Moschee, die Grüne Moschee

und die Hüdavendigarund Orhan-Gazi-Moschee. Sehenswert

sind auch die Grabmale der ersten osmanischen Sultane, Osman

I. und Orhan I., und der Bazar, hier vor allem der Seidenbazar

Koza Han, dessen Besuch Sophia mit ihrem Vater oft mit großer

Freude genoss. Der 2.542 Meter hohe Hausberg Uludağ um den

später ein Nationalpark eingerichtet wurde, war auch für Sophia

und ihre Geschwister ein beliebtes Ausflugsziel. Auf dem Wege

dorthin, nur einige hundert Meter außerhalb der Stadtgrenze befand

sich ein Steinbruch, der von Sophia und ihrem Freund Ayaz sehr

oft besucht wurde. Die besondere Attraktion dieses Steinbruches,

der zum Teil steil abfallende Felswände hatte, waren die Kletten.

Anmerkung: In der Natur fällt die Klette vor allem dadurch auf,

dass sich ihre hakeligen Blütenstände beim Spaziergang an die

Kleider hängen und sich nur widerstrebend entfernen lassen.

20

Diese Kletten wuchsen ausschließlich und nur in der näheren und

weiteren Umgebung von Bursa an diesem Steinbruch und Sophia

hatte große Freude ihren Freund Ayaz mit den Kletten zu bewerfen,

die er dann nur mühselig aus seinen Kleidern wieder entfernen

konnte. Oft brachte Sophia auch ein Körbchen dieser Blütenstände

mit nach Hause, denn auch die traditionelle türkische Volksheilkunde

schreibt der Klette eine harntreibende und blutreinigende

Wirkung zu. Auch gegen Gelenkrheuma, Geschwüre, Magenbeschwerden,

Haarausfall, Kopfschuppen, unreine Haut und zur

Wundheilung wurde ihr stets eine heilende Wirkung zugeschrieben.

Verwendet werden die im Herbst oder im Frühjahr des Jahres

gesammelten getrockneten Wurzeln der Großen Klette, wie auch

der Kleinen Klette und der Filzklette. Klettenwurzeln werden eher

selten aber auch im Handel angeboten. Inhaltsstoffe sind Lignane,

das sind gewisse Schleimstoffe, auch geringe Mengen an ätherischen

Ölen sind enthalten.

Zur innerlichen Anwendung machte Sophias Mutter einen Aufguss

aus gehackten Klettenwurzeln oder eben auch aus frischen

getrockneten Pflanzenteilen. Sie sah diesen Sud - von ihrer Großmutter

überliefert - als wirksames Haarwuchsmittel an und ließ sich

nicht davon abbringen, ihrem Gatten Konstantin immer und immer

wieder den Kopf damit einzureiben. Vater Konstantin stammte aus

Griechenland und hatte zwar in seiner Jugend wallendes schwarzes

Haar, was jedoch in fortgeschrittenem Alter einer weitgehenden

Glatze weichen musste. Alle Bemühungen von Mutter Maria-Celice

brachten leider keinen Erfolg. So behalf sich der Vater damit, dass

er - obwohl kein Moslem - sich oft einen wundervollen seidenen

Turban um den Kopf wickelte.

Sophias Mutter hatte schon geglaubt, dass sich das Thema um

das Fortbleiben von Ayaz erledigt habe, als Sophia noch einmal

davon anfing:

„Hoffentlich ist Ayaz nichts passiert!“, jammerte Sophia mit sorgenvoller

Miene, denn ihr junges Herz hatte sie schon lange an den

freundlichen, höflichen und aufgeweckten Heiratskandidaten verloren.

In der osmanischen Hemisphäre war es damals wie auch später

21

üblich, dass Eltern ihre Kinder noch im Kindesalter einen Ehegefährten

nicht nur aussuchten, sondern diesen auch mit ihren Nachkommen

bereits im zwölften oder dreizehnten Lebensjahr vermählten.

„Was soll ihm schon passiert sein?“, sagte die Mutter ziemlich

ärgerlich und schloss das Thema ab, indem sie sagte und dabei ihr

Stickzeug beiseitelegte

„Ich gehe jetzt ins Cemevi (Anm.d.A.: ein Versammlungshaus,

wo Gedichte rezitiert werden und zu einem rituellen Tanz dem

Semah geladen wird.) Da Sophias Mutter zur Glaubensgemeinschaft

der Aleviten gehörte, war es für sie zwar kein Muss, jedoch

eine angenehme Abwechslung, sich hin und wieder in dieses Versammlungshaus

zu begeben.

Aleviten beten nicht in einer Moschee, sondern treffen sich zu ihren

Kulthandlungen im Cem. Die Aleviten sind Mitglieder einer vorwiegend

in der Türkei beheimateten Glaubensrichtung, die im 13.

und 14. Jahrhundert mit dem Zuzug von turkmenischen Stämmen

aus Anatolien entstanden. Sie stellten damals wie heute die zweitgrößte

Religionsgruppe der Türkei dar, belegen jedoch der Schätzung

nach nur 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Historiker gehen

davon aus, dass sich für die Aleviten eine Beziehung zum schiitischen

Islam herstellen lässt. Ziel eines Aleviten ist die Erleuchtung

durch, zum Beispiel, Nächstenliebe, Bescheidenheit und Geduld.

Diese Eigenschaften passten so gar nicht zum Charakter von Sophias

Mutter. Sie war stets ungeduldig, wollte immer ihre Gedanken

und Absichten durchsetzen. Von Bescheidenheit ihrerseits kann

keine Rede sein, denn sie forderte von ihrem Ehemann Konstantin,

der immerhin ein angesehener Hutmacher im Stadtteil Kocanaip

war, stets sein Geschäft auszuweiten und mehr Umsatz nachhause

zu bringen. Die Mehrheit der für Sunniten und Schiiten geltenden

Verbote und Gebote aus dem Koran werden von Aleviten nicht

befolgt. Der Koran stellt für sie keine Glaubensgrundlage dar, sondern

wird als kritisch zu betrachtende Lektüre angesehen. Gerade

deshalb fand Sophia es immer interessant, wenn ihr Ayaz aus dem

22

Koran vorlas. Die grundlegenden Unterschiede zwischen Aleviten

und Sunniten sind seit der osmanischen Zeit die Unterdrückung

und Verfolgung der Aleviten. Aleviten wurden früher insbesondere

im historischen Kontext der Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts

etwas verächtlich als Kizilbasch (Anm.d.A.: Häretiker = Ketzerei,

Irrlehre, abweichende verschiedene Meinungen) bezeichnet.

Die Aleviten wurden auch deshalb oft Häretiker genannt weil sie

sich 1514 mit den iranisch-salawidischen Schahs gegen die Osmanen

verbündeten. Wegen der Unterdrückung und der bedrohten

Lage der Aleviten unter der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft kam

es im Laufe der Zeit immer wieder zu blutigen Aufständen. Viele

Aleviten bekennen sich auch nicht aufgrund der ständigen Verfolgung

öffentlich zu ihrem Glauben. Die meisten Aleviten sind Türken

und Turkmenen. Eine Minderheit sind Kurden oder Zaza,

andere wiederum sind Aserbaidschaner. Außerhalb dieser gibt es

auch Gemeinschaften in einigen Regionen Iranisch-Aserbaidschans.

Auch in Griechenland gab es eine einheimische etwa 3.000 Personen

umfassende alevitische Gemeinschaft. Deshalb rührt wahrscheinlich

auch das tolerante Verständnis von Sophias Vater Konstantin

für die religiöse Einstellung der Mutter her. Der alevitische

Glaube ersetzt die sogenannte Allah-Mohammed-Beziehung des

Sunnitentums durch die Allah-Mohammed-Ali-Philosophie. So

wird beim sogenannten alevitischen Glaubensbekenntnis an die

Schahãda, das „Ali ist der Freund Gottes“ hinzugefügt und viel über

die Beziehung dieser drei gesungen. Jedoch stellt letztere keine

Trinität wie die des Christentums dar, sondern vermittelt lediglich

eine mystische Lehre. Das Ziel des Lebens im Alevitentum ist die

Erleuchtung beziehungsweise die Vollkommenheit die sogenannte

al-Insãn al-Kãmil zu erreichen. Diese erreiche man, wenn man sich

an die Regeln der 4 Tore, 40 Pforten, die vom Koran inspiriert

wurden, hält und dabei Nächstenliebe, Geduld, Bescheidenheit und

andere gute Werte zeigt und diese auch im öffentlichen Leben anwendet.

23

Umso mehr hat sich Konstantin, der Ehemann, immer gewundert,

warum seine Gattin diese Regeln überhaupt nicht befolgt. Als

Maria-Cecile Glavoni am späten Abend von ihren Andachtsübungen

heimkehrte, war ihr Mann Konstantin noch wach und begrüßte

sie mit den Worten:

„Nun Weib, was hast du heute gelernt in deiner Glaubensstunde?“

„Was fragst du mich so scheinheilig? Willst du wieder einen

Streit vom Zaune brechen?“

„Nein, überhaupt nicht…“, sagte Konstantin, „…aber deine Reaktion

jetzt wieder auf meine harmlose Frage zeigt mir, dass du keine

gute Alevitin bist. Die Aleviten sollten doch aufrichtig, freundlich,

barmherzig, gerecht und liebevoll sein.“

„Ach….“, sagte spöttisch die Gattin, „…ich bin froh, dass wenigstens

auch du, als gottloser Mensch, die Regeln der Aleviten anerkennst,

wonach Frauen und Männer absolut gleichgestellt sind

und alle Lebewesen als Gottesgeschöpfe mit einer unsterblichen

göttlichen Seele betrachtet werden“

„Eben…“, sagte Konstantin, „…und Toleranz ist doch eine der

wichtigen Eigenschaften von euch Aleviten.“

“Du kannst froh sein…“,, sagte Maria-Celice mit fester Stimme,

„…dass sich die Aleviten nicht an religiöse Vorschriften, wie sie beispielsweise

für orthodoxe Moslime als Pflicht und Voraussetzung

gelten, halten müssen. Nach unserem Verständnis ist die Scharia)

(Anm.d.A.: das religiöse Gesetz) offensichtlich in der Religion

überwunden, da das Alevitentum die Mystik zum Fundament hat.

Dennoch gibt es in der alevitischen Theologie 4 `Tore´, von denen

das erste die Scharia darstellt“

„Ich bin durchaus froh…“, warf Konstantin ein, „…dass es außerhalb

eures Gottesdienstes keine festen Gebetszeiten wie im Islam

gibt“

„Nun ja, wir haben eben unsere eigenen Gebetsund Andachtsformen

und auch unsere eigenen Fastenpraktiken.“

„…die sich aber von denen andere Moslime kaum unterscheiden“,

beendete Konstantin den Satz.

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„Wie die Schiiten halten wir uns an die Lehren der Imame“

murmelte Maria-Celice „im Zentrum unseres Glaubens steht der

Mensch als eigenverantwortliches Wesen. Und wichtig ist uns das

Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den

Jenseitsvorstellungen sind für uns Aleviten nebensächlich.“

„Man könnte Angst bekommen, wenn du solche Dinge erzählst,

dann wäre doch Mord und Todschlag für euch eine geringfügige

Angelegenheit. Oder?“

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte Maria-Celice das

Thema vom Tisch und beide begaben sich in ihr Schlafgemach.

Die Hauptquellen des Alevitentums sind nicht allein „Der große

Buyruk“ von Imam Dschafar ibn Muhammad as-Sadiq, angenommen,

sondern auch unzählige religiöse Gedichte und Lieder. Aleviten

waren aufgrund ihrer Verfolgung und Unterdrückung gezwungen

ihre Glaubensinhalte mündlich durch Lieder und Gedichte von

Generation zu Generation zu überliefern. Die Symbiose aus verschiedensten

religiösen und mystischen Strömungen macht verständlich,

dass die Aleviten zwar im Islam ihren Ursprung sehen,

jedoch nicht den allseits anerkannten islamischen Gruppierungen

zugerechnet werden wollen.

***

Schon zu Zeiten von Sophia, demnach zum Ende des 18. Jahrhunderts,

war Bursa die zweitgrößte Stadt der Türkei. Damals hatte

Bursa bereits mehrere hunderttausend Einwohner. Die Stadt hatte

damals schon so etwas ähnliches wie vier Krankenhäuser, eine ganze

Anzahl von Schulen; auch auf Privatinitiative hin gab es Kindergärten,

bzw. Kinderaufbewahrungsanstalten. Es gab Saunen und

Badeanstalten, zwei große Gefängnisse und eine Polizeipräfektur.

Am Morgen des 12. April 1771 wollte der Vater von Sophia,

Konstantin Glavoni, sich gerade sein Handwerkszeug in der Hutmacherei

zurechtlegen, als jemand heftig an seine Tür pochte.

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„Wer fordert schon so früh Einlass, bei einem armen Hutmacher?“,

rief Konstantin zwischen den Regalen und seinem

Arbeitstisch in Richtung Türe.

„Mach auf..“, ertönte von dort eine Stimme, „…es eilt!“

Glavoni öffnete die Tür und vor ihm stand Yusuf Bilgin sein alter

Schulfreund und Vater des eingangs erwähnten Heiratskandidaten

Ayaz. Konstantin hieß den zittrigen und nervös angespannten frühen

Besucher doch erst einmal Platz zu nehmen.

„Wie kann ich dir helfen, Yusuf?“, fragte Konstantin Glavoni

„Ich brauche deine Hilfe.“

„Ich weiß nicht wie ich dir helfen soll? Aber vielleicht drückst du

dich einmal deutlicher aus.“

„Stell dir vor…“ keuchte Yusuf, der offenbar die ganze Strecke

von seiner Wohnung bis zur Werkstatt des Konstantin im Laufschritt

zurückgelegt hatte,

„…seit Samstag vermisse ich meinen Sohn Ayaz“

„du hast doch sicher gleich die Polizei gerufen?“

„Langsam, ich erzähle dir jetzt die Einzelheiten. – Ayaz verließ

unser Haus am Samstagnachmittag und wir waren der Annahme,

dass er wieder wie jeden Tag zu deiner Tochter Sophia geht, um

mit ihr die Zeit zu verbringen. Normalerweise ist er immer zum

Abendbrot zurück. Es kam aber auch schon einmal vor, dass er bei

euch zu Abend gegessen hatte, dann etwas später nachhause kam

und gleich im Schlafsaal der Kinder verschwand. Wir bemerkten

deshalb auch erst am Sonntagmorgen, dass Ayaz die ganze Nacht

nicht da war. Das hatte er mit seinen vierzehn Jahren noch nie gemacht

und mein Weib und ich gerieten in arge Sorge. Wir erkundigten

uns in der Nachbarschaft ob jemand Ayaz in den letzten

Stunden wahrgenommen hatte. Als alle diese Erkundigungen negativ

verliefen, schickte ich meinen Ältesten Ahmet zu euch, wo er

unterwegs Sophia traf, die bestätigte, dass Ayaz seit dem Freitag

nicht bei ihr erschienen war. Gestern, also am Sonntagnachmittag,

eilte ich dann endlich zur Polizeipräfektur, um zu melden, dass

mein Sohn Ayaz abgängig war.“

„Erhieltest du dort Hilfe?“

26

„Was heißt Hilfe? Man versuchte mich zu beruhigen und man

meinte, dass es jeden Tag in Bursa eine ganze Anzahl vermisster

Kinder gebe, die nach einer gewissen Zeit wieder auftauchten. Das

war für mich ein billiger Trost. Ich bat um eine Hundertschaft an

Polizisten, um unser Stadtviertel zu durchsuchen. Dabei lachte mich

der Polizeipräfekt aus und meinte, ich solle doch in zwei Tagen

wieder kommen, wenn sich der Knabe dann immer noch nicht eingefunden

hätte. …Nun weiß ich mir nicht mehr zu helfen und ich

möchte dich bitten, nachdem wir ja nicht nur eng befreundet, sondern

auch bald verwandtschaftlich verbunden sind, mir bei dieser

Suche zu helfen!“

„Das machen wir. Beruhige dich. Wir werden ihn schon finden“,

sagte Konstantin und zog seine lederne Arbeitsschürze aus. Er verschloss

die Tür und ging mit seinem nervösen Besucher in den

rückwärtigen Hof des Gebäudes, wo er seinen Eselskarren samt

Zugtier immer verstaut hatte. Konstantin fuhr bei schlechtem Wetter

stets mit dem Eselskarren von seiner Wohnung zur Hutmacherwerkstatt,

was etwa eine gute Viertelstunde beanspruchte. Der

besagte Eselskarren bestand aus zwei riesigen eisenbeschlagenen

Holzrädern von denen jedes einen Durchmesser von mindestens

einem Meter und achtzig Zentimeter hatte. Es gab keine Ladefläche,

sondern nur eine Achse, die die beiden Räder miteinander

verband. Auf dieser Achse war ein breites abgehobeltes Holzbrett

befestigt, was als Sitzunterlage diente. Vor dieses Gefährt war ein

Eselchen gespannt, das brav und willig den Karren vom Start zum

Ziel beförderte. Die beiden Männer hatten gerade mal nebeneinander

auf der kleinen Sitzfläche zwischen den beiden großen Rädern

Platz genommen und so klapperte das Fahrzeug eine gute

Viertelstunde hinunter zur Kaplica Caddesi, wo im Stadtteil Kocanaip

das Wohnhaus der Glavonis lag. Es herrschte große Aufregung

im Haus Glavoni als man dort vom vermissten Ayaz erfuhr. Insbesondere

Sophia brach in Tränen aus und sagte zu ihrer Mutter

„Hab ich es nicht gleich gesagt, dass etwas passiert sein muss.“

„Ach was..“, sagte die Mutter, „…mal nicht gleich den Teufel an

die Wand! Es wird ihm schon nichts passiert sein. Vielleicht hat er

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sich auf einem Spaziergang verlaufen und sucht den rechten Weg

nachhause.“

„So ein Unsinn“, warf Vater Konstantin ein und sagte zu seiner

ganzen Sippe gewandt, „zieht euch ordentlich an, es kommt ein

Wetter.“

Über dem Hausberg Uludağ hatten sich dunkle Wolken zusammengeballt

und es sah, was selten genug war, nach Regen aus.

„Hol mir meinen Umhang“, sagte Mutter Maria-Celice zu ihrer

Tochter Sophia, die sogleich in den Flur eilte und das Kleidungsstück

vom Haken nahm. Sie legte es der Mutter um die Schultern

und bemerkte dabei, dass sich am unteren Saum des Kleidungsstückes

eine Klette verhakt hatte. Mit Verwunderung ging es Sophia

heiß durch den Kopf, dass sie doch schon seit mehr als einem

halben Jahr keine Kletten mehr nachhause gebracht hatte und dass

es ihr aufgefallen wäre, wenn die Klette sich am Umhang der Mutter

schon längere Zeit verfangen hatte. Sophia rührte die Klette

nicht an. Die ganze Familie formierte sich zum Abmarsch.

Man suchte die näheren und auch weiteren Stadtviertel ab, bis

hin zum Stadtrand und als die Suche mehr als zwei Stunden erfolglos

blieb, kehrte man deprimiert wieder zurück. Sophia weinte die

ganze Nacht in ihr Kissen und nur bei ihrer Lieblingsschwester

Elif fand sie etwas Trost, bis sie einschlief. Am nächsten Morgen

hielt Konstantin Glavoni seine Hutmacherwerkstatt geschlossen

und begab sich zur Kaleboyu Caddesi, zur Wohnung seines Freundes

Yusuf. Er war neugierig ob es etwas Neues in Sachen des vermissten

Ayaz gab. Er wollte auch, soweit er konnte etwas Trost

spenden und weitere Maßnahmen zum Auffinden des Knaben besprechen.

Die Frau von Yusuf kam Konstantin schon auf den

Treppen zum Eingang des Hauses aufgeregt entgegen, indem sie

ein Stück Papier in der Hand hielt und es hin und her schwenkte.

„Schau mal Konstantin, was wir vor einer halben Stunde gefunden

haben.“ Konstantin setzte sich erst einmal in der guten Stube

des Hauses nieder, umringt von den zahlreichen Familienmitgliedern

der Familie Bilgin und las laut vor, was auf dem Zettel in

etwas zittriger Handschrift geschrieben stand

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„daha doğrusu Ayaz (lieber Ayaz) können wir uns heute Nachmittag

oben am Steinbruch sehen? beklerim (ich warte) Sophia“.

„Dieser Zettel…“, sagte Mutter Bilgin, „…liegt seit Samstagvormittag

hier innen an der Haustüre. Ich habe ihn bis heute nicht

beachtet“.

„Das kann ich eigentlich nicht glauben…“, sagte Konstantin.

„…wenn meine Tochter Sophia ihren Freund Ayaz an den Steinbruch

bestellt hätte, hätte sie das längst gesagt.“

„Aber der Zettel ist doch von Sophia unterschrieben?...da gibt es

doch keinen Zweifel“, warf Yusuf ein. Konstantin wiegte den

Kopf hin und her und meinte

„…der Zettel trägt aber, so meine ich jedenfalls, nicht die Handschrift

meiner Tochter“, was diese auch später vehement und energisch

abstritt.

***

Am nächsten Tag saß die Familie Glavoni um den Frühstückstisch.

Alle hatten eine ernste Miene aufgesetzt und Sophia versuchte ihre

tränenden Augen zu trocknen. Gerade mal beiläufig erzählte die

Mutter

"Ach wisst ihr, ich war am Samstagnachmittag bei Defne, eurer

Tante, und die hat, was man sich gut denken kann, kein anderes

Thema als die im September stattfindende Hochzeit ihrer Tochter

Azra, eurer Cousine, im Kopf“

Sophia hatte die Bemerkung kaum wahrgenommen. Ihre Gedanken

wanderten ausschließlich in Richtung des immer noch vermissten

Ayaz.

„Wie viele Gäste sollen denn kommen?“, fragte Elif ihre Mama

und diese meinte, „Auf jeden Fall viel zu viele. Ich nehme an es

werden an die Hundert.“ Sophia schaltete sich in das Thema ein

und meinte

„Wenn Ayaz bis dorthin nicht zurück gekehrt ist, wird es eine

traurige Hochzeit“, …und schon liefen ihr wieder die Tränen über

die Wangen.

29

Inzwischen hatte sich auch die Polizei der Sache angenommen

und ein Dutzend Beamte befragten Personen in den Nachbarschaftsstadtteilen

ob sie wohl den vermissten Ayaz gesehen hätten.

Nach mehrstündiger Befragung stieß man auf eine ältere Frau, die

behauptete, am Samstag an dem Ayaz die Wohnung seiner Familie

verlassen hatte, der Beschreibung nach, einen jungen Mann gesehen

zu haben, der in Richtung Stadtgrenze und damit in Richtung Steinbruch

unterwegs war. Wie glaubwürdig diese Aussage war, konnte

von der Polizei nicht festgestellt werden. Man nahm jedenfalls diese

Aussage als glaubwürdig entgegen und forschte weiter in Richtung

der Steinbrüche, was zumindest für den Polizeipräfekten eine konkrete

Spur bedeutete.

Nachdem die Polizei sämtliche Mitglieder der Familien Bilgin

ebenfalls ausführlich befragt hatte, kamen zwei Beamte am darauffolgenden

Tag noch einmal zur Familie Glavoni, um auch hier

noch einmal eine intensive Befragung aller Familienmitglieder vorzunehmen.

Zur selben Stunde war auch Tante Defne bei den Glavonis

eingetroffen, denn in der halben Stadt hatte sich der Fall des

vermissten Ayaz herumgesprochen und die Neugier trieb Tante

Defne zur Familie ihrer Schwester.

„Das passt ganz gut“, sagte einer der Polizeibeamten, „… da können

wir auch noch die nähere Verwandtschaft befragen.“

An jeden wurde sogleich die Frage gestellt, wo er sich denn an

besagtem Samstagnachmittag, nach dem Verschwinden von Ayaz,

aufgehalten habe. Unter Tränen berichtete Sophia, dass sie den

ganzen Nachmittag daheim sehnsüchtig auf den Besuch von Ayaz

gewartet habe und dass ihr sein Wegbleiben als sonderbare Ausnahme

erschien, nachdem dieser sie jeden Tag, immer etwa um die

gleiche Zeit, am Nachmittag besucht hatte. Alle Familienmitglieder,

und es waren derer sieben, wurden von den Beamten in einen separaten

Raum gebeten zur besonderen Befragung. Auf dem Weg dahin

fragte einer der Beamten Mutter Maria-Celice, wo sie denn an

besagten Samstagnachmittag gewesen wäre.

„Ich kann mich nicht mehr genau erinnern“, sagte Maria-Celice.

Da wurde Sophia hellhörig und warf ein „du hast doch gesagt, du

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wärst bei Tante Defne gewesen und ihr hättet euch über die Hochzeit

meiner Cousine unterhalten.“

„Ach ja…“, sagte die Mutter, „…jetzt erinnere ich mich. Ich habe

den ganzen Nachmittag bei Defne verbracht“. Die Beamten waren

zufrieden.

Als die Reihe der Befragten an die zufällig anwesende Tante

Defne kam und diese nach ihrem Verbleib beziehungsweise nach

ihrer Tätigkeit an diesem Nachmittag gefragt wurde, so antwortete

diese „Ich war bis zum Abend beim Einkaufen im Bazar“. „Moment…“,

sagte der Beamte, „…soeben hat uns ihre Schwester, Frau

Glavoni erzählt, sie wäre am Samstagnachmittag bei ihnen gewesen

und sie hätten bei Kaffee und Kuchen über die Hochzeit ihrer

Tochter gesprochen?“

„Das muss meine Schwester wohl verwechselt haben. An diesem

Samstag war sie jedenfalls nicht bei mir.“

Nach wiederholter Befragung der Frau Glavoni und nachdem

man sie mit der Aussage ihrer Schwester konfrontiert hatte, gab

diese etwas eingeschüchtert und verlegen zu, dass sie sich nicht

mehr erinnere, was sie an jenem Nachmittag gemacht hätte. Als sich

die beiden Beamten verabschiedet hatten und zur Haustüre strebten,

vernahm Sophia eine kurze Unterhaltung der beiden Polizisten,

wobei einer zum anderen bemerkte „…diese Frau Glavoni hat, so

meine ich, ein verdächtiges Verhalten an den Tag gelegt. Sie hat

kein Alibi!“ Ganz heiß schoss es Sophia ins Gedächtnis, dass sie im

Übrigen am Tage vorher als sie ihrer Mutter die Pelerine reichte,

eine Klette am unteren Saum ihres Kleidungsstückes bemerkt hatte.

Kletten wuchsen und das wussten alle Einwohner von Bursa ausschließlich

nur an einer Stelle der Umgebung, nämlich am Steinbruch

am Fuße des Uludağ. Sophia zitterte am ganzen Leibe,

nachdem ihr auch ins Bewusstsein kam, welche Abneigung ihre

Mama gegenüber Ayaz immer an den Tag gelegt hatte und dass sie

schon lange Zeit die Verbindung zwischen Ayaz und ihr missbilligte.

Am Tage darauf meldeten sich zwei Bauarbeiter bei der Polizeipräfektur

und berichteten, sie hätten den Leichnam eines jungen

Mannes am Fuße des Steinbruches gefunden. Umgehend eilten die

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mit dem Fall befassten Beamten, mit zwei weiteren Kollegen und

zusammen mit den beiden Arbeitern, zum Steinbruch. Der erste

Verdacht, die beiden Arbeiter, die den Fund der Leiche gemeldet

hatten wären verdächtig in das Unglück verwickelt zu sein, konnte

sich nicht bestätigen, außerdem schien es sich, nach ersten Untersuchungen

tatsächlich um einen Unfall zu handeln. Der junge

Mann war offensichtlich von der oberen Kante des mindestens 60

Meter steil abfallenden Steinbruches abgestürzt. Die schlimme

Aufgabe der Identifizierung der Leiche lag beim Vater von Ayaz,

der nur mehr bestätigen konnte, dass es sich um seinen Sohn

handelte. Die Untersuchungsbeamten und nicht nur sie, nahmen

die Verdächtige Maria-Celice Glavoni noch einmal intensiv ins

Verhör, nachdem sie kein Alibi vorweisen konnte. Keiner jedoch,

außer der kleinen Sophia konnte ein Motiv für so eine schreckliche

Tat finden, warum Frau Glavoni in den Tod des jungen Mannes

verwickelt hätte sein können. Die Gerüchte jedoch verstummten

nicht und halb Bursa schrieb der allseits unbeliebten und herrschsüchtigen

Frau Glavoni zumindest eine Mitschuld am Tod des unschuldigen

jungen Mannes zu. Sophia brauchte Wochen, um über

den Verlust ihres Freundes und über den schrecklichen Verdacht

gegen ihre Mutter hinwegzukommen. Eines Abends vor dem Zubettgehen

sagte sie zu ihrer Schwester Elif

„Ich glaube es war Mord.“

Dieses schreckliche Erlebnis prägte das ganze Leben der jungen

Sophia. Sie war eigentlich zartbesaitet, konnte sich aber über unglückliche

Ereignisse stets in kurzer Zeit hinwegsetzen. Sie hatte

frühzeitig erkannt, dass es im Leben Dinge gab, die schön und

angenehm waren, dass es aber auch Ereignisse gab, die furchtbar

waren, denen man sich aber nicht entziehen konnte. Obwohl ihr

das Beispiel der alevitischen Mutter stets vor Augen blieb, hatte

sie es nie gelernt an einen, wie er auch im Koran beschrieben wird,

gütigen und allbarmherzigen Gott zu glauben. Sie nahm Zeit ihres

Lebens die Ereignisse die auf sie zukamen als unabdingbar und

versuchte mit dem Rest an heiterem Sinn, der ihr geblieben war,

das Beste aus jeder Situation zu machen. Die Einstellung blieb ihr

ein Leben lang beigeheftet und trug durch ihre außergewöhnliche

32

Schönheit, die sich bereits in der Pubertät entwickelte und für jeden

sichtbar war dazu bei, dass ihre ganze Umgebung und nicht

nur der männliche Part nahezu ausnahmslos von ihr begeistert war.

Nachdem die Gerüchte, die Gattin Konstantins könnte eine

Mörderin sein, - wenn auch ein Bewies dafür nie erbracht werden

konnte - monatelang nicht verstummten, entschloss sich die Familie,

insbesondere auf Betreiben der Mutter Glavoni die Zelte in

Bursa abzubrechen und in die Hauptstadt Istanbul zu ziehen. Das

war im Frühjahr des Jahres 1772.

33

Kapitel 2

„Ich weiß, es war keine Liebe….“

Wir schreiben das Jahr 1773.

Der polnische Botschafter in Istanbul Karol BoscampLiasopolski saß im obersten Stockwerk seines Palastes hinter seinem

Schreibtisch. Vor ihm, der wuchtige Schreibtisch aus wertvollem

Mahagoni, hinter seinem Rücken ein großes romanisches Fenster,

das ihm den Blick auf die türkische Metropole frei gab. Sein

feudal eingerichtetes Büro machte auf jeden Besucher den Eindruck:

hier residiert ein Mann, der über Macht und Würde verfügt.

Ein großes Bücherregal mit Folianten in Schweinsleder gebunden

mit den Handschriften aus früheren Jahrhunderten. Auf der anderen

Seite ein paar hohe Mahagoni-Schränke. Überall im Raum vergoldete

mehrarmige Kerzenleuchter und in der Mitte des Raumes

ein Kandelaber aus böhmischem Kristall. Boscamp-Liasopolski war

groß gewachsen, hatte eine tadellose Figur und war, so könnte man

sagen, mit seinen 38 Jahren und seinen vollen, blondgescheitelten

Haaren ein Frauentyp. Kein Wunder, er liebte die Frauen; insbesondere

die jungen, wenn sie so um die 20 Lenze waren und er

erfrischte sich stets nicht nur bei deren Anblick, sondern in den

meisten Fällen auch durch eine intensive Beziehung. Boscamp, der

in den Niederlanden geboren war, hatte als er im Jahre 1773 hinter

seinem Schreibtisch thronte schon etliche politische Erfahrungen

gesammelt. Er war Kurier des preußischen Gesandten in Istanbul

während des Siebenjährigen Krieges gewesen. Anfang der 1760er

Jahre war er Berater des Khans auf der Krim und ging später nach

Polen. Ab 1764 stand er in polnischen diplomatischen Diensten

und er nutzte sein umfangreiches Fachwissen über die osmanische

Politik, um die polnischen Beziehungen zu fördern. So arbeitete er

mit dem Gesandten Tomasz Aleksandrowicz eng zusammen und

gründete eine `Schule der orientalischen Sprachen´ in Istanbul.

Auf seinem Schreibtisch thronte die schwere Bronce-Figur eines

indischen Elefanten, den man durch seinen erhobenen Rüssel in

eine Angriffsposition deuten könnte. Seit dem Boscamp einmal den

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Kolonialkrieg in Indien kurzzeitig besucht hatte, waren seine

Glückssymbole diese Rüsseltiere. In Bildern, in kleinen und großen

Skulpturen, überall fand man in seinem Büro und auch in seinen

Privatgemächern Elefanten aller Größen und Gattungen.

Boscamp drehte sich mit seinem von acht Rädern getragenen

Schreibtisch-Sessel um zum Fenster, wischte mit einer Handbewegung,

den schweren roten Brokatvorhang, der mit goldenen Fransen

bestückt war, beiseite und blickte nachdenklich über die Dächer der

Stadt. Wie in Gedanken drehte er sich nach einer Weile wieder

seinem Schreibtisch zu und blickte dem Gast der vor seinem

Schreibtisch Platz genommen hatte, fest in die Augen indem er sagte

„Monsieur du Barry, haben Sie es für möglich gehalten, dass

unser polnischer König August Poniatowski vor wenigen Wochen

mit dem Orden des Weißen Adlers ausgezeichnet wurde?“

Stanislaus Poniatowski war ein hübscher eleganter Mann, der mit

22 Jahren erstmals an den Hof der damaligen Zarin Elisabeth, der

Schwiegertante Katharinas der Großen - damals noch Großfürstin –

kam. Er war zu dieser Zeit Gesandtschaftssekretär des englischen

Gesandten Sir Charles Hanbury William. Dieser englische Gesandte

hatte zusammen mit seinem Sekretär Poniatowski eine einzige

Aufgabe nämlich, sie sollten der Annäherung Russlands an Frankreich

entgegen wirken.

Poniatowski, der sich sogleich nach seiner Ankunft in Petersburg

in Katharina verliebte (auf dessen Liebesbeziehung später in diesem

Buch noch eingegangen wird), wurde nach einigen turbulenten Petersburger

Jahren nach Warschau zurückgeschickt und dort später

mit Katharinas Gnaden zum König gewählt.

Monsieur du Barry verneigte sich etwas, „diesen Orden hat er

wohl mit der nachdrücklichen Mithilfe Ihrer Gnaden, der Großen

Katharina, erhalten? Die Frage ist aber, wurden damit seine politischen

Leistungen oder seine Verdienste vordem im Bett der Zarin

Katharina gewürdigt?“

Boscamp: „Als langjähriger Anhänger der russischen Zarin und

Verehrer unseres polnischen Königs muss ich mich gegen solche

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Beziehungsvermutungen verwahren. Allerdings – und das muss ich

Ihnen zugutehalten – sind die sogenannten `Adjutanten´ Ihrer Hoheit

der Zarin nicht mehr zu überblicken. Wir kennen uns noch

nicht sehr gut, Monsieur…“, sagte Boscamp, „…deshalb gestatten Sie

mir trotzdem eine intime Frage, sind Sie verwandt mit der berühmten

Mätresse König Ludwig des XV., der Du Barry?“

„Ja Excellenz, ich bin ein weitschichtiger Verwandter des Grafen

Jean-Baptiste du Barry, der seine damalige Frau mit Vornamen

Marie-Jeanne als 18jährige dem König von Frankreich als Mätresse

zu vermitteln suchte. Sie kam wie wir alle wissen aus einfachsten

Verhältnissen. Sie war die uneheliche Tochter einer Näherin und

eines Franziskaner-Paters und wurde am 22. April 1769 nun tatsächlich

als Adelige am Hof eingeführt. Ich konnte mich selbst

einmal vor ein paar Jahren von ihrer gerühmten Schönheit, ihrem

unwiderstehlichen Charme und ihrer immerwährenden Jugendlichkeit

vergewissern. Ich bin heute noch beeindruckt“.

Boscamp: „Nun, lassen Sie uns nicht zu sehr abschweifen. Was

führt Sie denn heute zu mir?“

„Excellenz, ich habe vor zwei Tagen einen Ausritt unternommen,

drüben im Park Tepebaşi. Da fiel ein bunter Ball vor die Füße

meines Pferdes, das erschrocken scheute und mich fast aus dem

Sattel warf. Zwei junge Mädchen eilten herbei, um sich ihren Ball

wieder zu holen. Ich sprach sie an, denn zumindest eine der beiden

war von ausnehmender Schönheit. Wie ich später erfuhr, war es

die 14jährige Sophia mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester. Beide,

zwei aufgeweckte fröhliche und lustige Heranwachsende, deren

man sich – so ging mir sogleich durch den Kopf – annehmen

müsste.“

„Erzählen Sie weiter. Das interessiert mich“, sagte Boscamp.

„Nun, ich erkundigte mich nach ihrer Wohnadresse, was ich

bereitwillig erfuhr und die junge Sophia erklärte mir sogleich offenherzig,

dass sie mit ihrer Familie erst vor kurzer Zeit von Bursa

nach Istanbul gezogen war. Der Vater konnte hier in Istanbul in

eine etablierte Hutmacher-Werkstatt einsteigen und als mein Inte

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resse vollends geweckt war, ließ ich mich von den beiden jungen

Damen zu ihrer Wohnstätte führen. Eine anständige Familie,

wenngleich mir die Mutter nicht sehr sympathisch erschien. Ich

lieferte sozusagen die beiden Mädchen dort ab, band meinen

Braunen an einen Türpfosten und man reichte mir ein Tässchen

Tee. Dann verabschiedete ich mich nach kurzer Zeit, indem ich die

Zusicherung erhielt, mich jederzeit wieder willkommen zu heißen.“

„Ich schlage vor…“, sagte Boscamp, dessen Interesse voll geweckt

war, „… dass Sie die beiden Mädchen am Wochenende zu

einer Plauderstunde hier in den Palast einladen.“

Gesagt - getan. Am kommenden Wochenende holte M. du Barry

mit seiner eleganten Kalesche die beiden Mädchen ab und

machte sie mit dem Botschaftsrat Boscamp bekannt. Dieser war

angesichts des Mädchens Sophia hellauf begeistert. Die beiden

jungen Damen waren sehr beeindruckt als sie der französische

Gesandte am Pförtner vorbei in das geräumige Treppenhaus des

Palastes führte. Etwas schüchtern traten die beiden Mädchen ins

Büro des Botschafters. Man hieß sie Platz zu nehmen und einer der

Kammerdiener servierte kaltes Zitronenwasser.

„Ich bin entzückt…“, sagte Boscamp, „…dass meine Behausung

zwei so hübsche junge Damen in Empfang nehmen darf.“

Die beiden lächelten verlegen und Sophia nahm sich ein Herz

und sagte „Excellenz, vielen Dank für die Einladung“. `Aha´ dachte

Boscamp, `die Kleine ist ja gar nicht so schüchtern wie man

annehmen könnte´.

„Gefällt Ihnen mein Haus?“, fragte der Botschafter und die beiden

nickten brav. Die Unterhaltung, die sich jetzt entwickelte,

wirkte ziemlich einseitig. Die beiden Mädchen, sittsam mit gefalteten

Händen im Schoß, saßen da und hörten artig zu wie der Botschaftsrat

sagte, „ich würde mich glücklich schätzen, wenn es Ihnen

hier bei mir gefiele. Mein Diener Pawel wird Ihnen anschließend

das Haus zeigen. Der Palast hier ist schon hundert Jahre alt

und wurde von den vielen politischen Wirren, die in dieser Zeit

hier in der Türkei stattfanden, arg mitgenommen. Wir haben versucht

alles zu renovieren so gut es ging und wieder auf heutigen

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Stand zu bringen. Bitte fühlen Sie sich hier wohl.“ Während er

sprach betrachtete Boscamp insbesondere Sophia. Sie gefiel ihm

außerordentlich gut. Ihre dunklen Locken, ihre feurig schwarzen

Augen, eine marmorweiße Gesichtsfarbe, ein edles Näschen und

eine schlanke Figur, die darauf hindeutete, dass sie als langsam

erwachsenwerdende junge Frau auch äußerlich und in vielen Dingen

berückend sein würde. Vor seinem geistigen Auge entstand

das Bild einer vollkommenen Schönheit und er war fest entschlossen,

sich des Mädchens `anzunehmen´. Man verabschiedete sich

freundlich und die jungen Damen wurden in der BotschaftsKalesche, in Begleitung des Franzosen du Barry, nachhause chauffiert.

Als du Barry zurückgekehrt war, ging er zum Büro des Botschafters,

der ihn bat Platz zu nehmen, indem er sagte „Nun, was

halten Sie von meiner Idee, die hübsche Sophia bei uns im Hause

aufzunehmen?“ „Ich habe Ihre Gedankten gelesen während Sie mit

den Damen sprachen…“ sagte du Barry „..und ich kann mir gut

vorstellen, dass Sophia eine Bereicherung Ihres Haushaltes wäre.“

„So weit will ich nicht denken…“, sagte Boscamp, „…am besten

Sie fahren morgen einmal bei den Eltern vorbei, um mit ihnen

zu sprechen ob sie eventuell gewillt wären, das Schicksal ihrer

Tochter in unsere Hände zu legen?“ „Nein nein…“, sagte der

Franzose, „…es wäre besser Sie führen dorthin“.

„Keineswegs, Sie sind Franzose. Können sich hervorragend

ausdrücken und machen sicher bei den Leutchen den besten Eindruck.

Nachdem Sie aus Franken stammen und ich von Ihren

Überredungskünsten überzeugt bin, beschreiben Sie den Eltern,

dass wir ihrem Töchterchen eine hervorragende Erziehung angedeihen

lassen“. „Na denn, gut…“, sagte Monsieur du Barry, „…ich

werde Ihnen dann übermorgen Bericht erstatten.“

Bertrand du Barry hieß seinen Kutscher am nächsten späten

Nachmittag anspannen, um sich in Richtung der Wohnadresse Sophias

kutschieren zu lassen. Zwei Straßenzüge vor dem Wohnhaus

der Glavonis hieß du Barry seinen Kutscher anzuhalten und sagte

„Warten Sie hier. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß, damit bei

den Nachbarn, wenn sie unser Gefährt erblicken, keine unnötigen

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Gerüchte entstehen.“ Der Kutscher hielt an, stieg vom Kutschbock

und ließ die Zügel locker. Er hatte einen Eimer Wasser mitgebracht

und ließ die beiden Rappen saufen, die dieses dankbar annahmen,

denn es war ein heißer, schwüler Tag in diesem Sommer.

Langsam schlenderte du Barry in Richtung Sophias Wohnung

als er plötzlich aus einer Seitenstraße leise ängstliche Rufe vernahm.

„Yardim - Yardim (Hilfe Hilfe!)“ rief eine helle Stimme und

nachdem diese nicht verstummte, lenkte er seine Schritte in Richtung

der Hilferufe, die immer lauter wurden je näher er kam. Die

Dämmerung hatte schon eingesetzt und undeutlich erkannte er in

einem der Hauseingänge ein heftiges Gezetere in dessen Mittelpunkt

sich ein Mädchen zweier aufdringlicher Burschen versuchte

zu erwehren. „Helfen Sie mir bitte, gnädiger Herr“, rief das Mädchen

mit erstickter Stimme. Du Barry rief zurück „Ich komme!“

Worauf sich die beiden Burschen umwandten. Als sie bemerkten,

dass hier ein schlanker eleganter Herr auf sie zustrebte, krempelte

einer der beiden Ganoven seine Hemdsärmel hoch und rief ihm

entgegen

„Komm nur her. Wir werden es dir zeigen!“

Du Barry stoppte seinen eiligen Schritt. Er war kein ängstlicher

Mensch und hatte früher schon in der französischen Armee gedient,

so dass ihm Händel und Raufereien nicht gänzlich unbekannt

waren. Aber die Überlegung gegen zwei kräftige junge

Männer zu einem Boxkampf anzutreten, schien ihm doch überlegenswert.

Nun hatte du Barry immer und jederzeit eine kleine dreischüssige

Steinschloss-Pistole in der Tasche seines Mantels. Früher

nannte man eine solche kleine Pistole, die eine Sonderanfertigung

war, auch `Fäustling´, denn sie war so klein, dass sie gut in

eine große Männerhand passte. Der Franzose griff in seine Manteltasche,

zog die Waffe heraus hielt sie mit ausgestecktem Arm

den beiden Vagabunden entgegen und rief

„Getraut euch her zu mir. Ich habe drei Schuss in meiner Pistole,

dass müsste wohl genügen um euch niederzustrecken.“ Entsetzt

ließen die beiden von dem überfallenen Mädchen ab und suchten

schnurstracks das Weite. Das Mädchen flüchtete sich in die Arme

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des Franzosen und brachte unter heftigem Schluchzen ein verschwommenes

`Danke´ heraus.

„Bist du verletzt mein Kind?“ fragte der wackere Retter

„hayer hayer (nein – nein!) schluchzte die Kleine und als sie ihr

Gesicht zu ihrem Retter erhob, der immerhin eineinhalb Kopf größer

war als sie, erkannte du Barry mit großem Erstaunen, dass er

die kleine Sophia im Arm hielt.

„Ja welch ein Zufall“, sagte der mutige Franzose

„Wie kommt es, dass ich dich hier in dieser Gegend treffe?“

„Meine Mutter hat mich kurz zum Bazar geschickt. Ich sollte

noch etwas Obst besorgen und auf dem Heimweg kamen die beiden

Kerle hinter mir her und wollten mir offenbar Böses antun.“

„Das ist jetzt vorbei. Beruhige dich wir gehen zusammen zu dir

nachhause. Ich wollte sowieso gerade mit deinen Eltern eine Sache

besprechen, die dich betrifft.“

Sophia hatte sich inzwischen beim Gesandten untergehakt und

so strebten die beiden der Glavoni-Wohnung entgegen. Voll

Schreck sagte die Mutter, als die beiden das Haus betraten und sie

das aufgelöste Äußere ihrer Tochter bemerkte

„Was hat dich so zugerichtet, mein Kind?“

„Ach Mama…“, sagte Sophia, „…ich bin überfallen worden

und dieser tapfere Herr hier hat mich vor zwei bösen Vagabunden

bewahrt.“

„Treten Sie ein Monsieur“ sagte die Mutter und hieß den Franzosen

Platz zu nehmen. Die Unterhaltung schwenkte von diesem

unguten Ereignis sehr bald hinüber zu den Belangen des hohen

Besuches, indem dieser darlegte, dass er Sophia mitnehmen wolle,

ihr eine gute Erziehung angedeihen ließe und sie in eine Situation

bringen wolle, die ihr ein Leben ohne Sorgen biete. Als der Vater

von Sophia zu diesem Gespräch hinzukam, und anmerkte, dass sie

dann doch für ihre Tochter einen Verlust an Arbeitskraft im Haushalt

und der eigenen Hutmacherei zu beklagen hätten, sagte der

Franzose jovial

„Ich bin bereit Ihnen eine Entschädigung von 1.000 Piaster zu

bezahlen.“

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Im osmanischen Reich und darüber hinaus, insbesondere in den

arabischen Ländern, war es durchaus üblich, dass man der Familie

eines heiratsfähigen aber unbemittelten Mädchens entweder Geld

oder auch Naturalien wie Kamele, Schafe oder Ziegen etc. als `Abstand

´ bezahlte. Es war also durchaus nichts Außergewöhnliches,

dass hier ein Handel und ein Feilschen um ein Menschenkind stattfand.

Der Vater von Sophia wiegte den Kopf hin und her und

meinte

„2.000 Piaster müssten es schon sein“.

Etwas erschrocken über die hohe Forderung legte Mama Glavoni

ihre Hand auf den Arm des Gatten, um anzudeuten er hätte etwas

zu hoch gepokert. Vater Glavoni ließ sich jedoch nicht beeinflussen

und blickte du Barry fragend in die Augen.

„Das, lieber Herr Glavoni, übersteigt mein Budget. Ich biete

Ihnen zum Letzten 1.550 Piaster. Bedenken Sie doch bitte, welch

reiche Zukunft Ihre Tochter erwartet. Der Botschafter hat mir

zugesichert, dass sie nicht nur Benimmund Sprachunterricht

durch einen renommierten Privatlehrer erhält, sondern dass er ihr

auch eine eigene Kammerzofe an die Seite stellt.“

„Katilyorum – gut ich bin einverstanden“ sagte der Vater „Ich

werde Ihnen unter diesen Umständen auch noch die ältere Schwester

von Sophia, Zehra anvertrauen.“

Dem französischen Gesandten fehlten die Worte. Er wusste

nicht ob er dieses Angebot als Anmaßung oder als freundliche GeschenkDreingabe verstehen sollte. Jedoch er wollte den Handel

endlich abschließen und sagte

„Ist in Ordnung, dann wären wir uns einig. Die Dreingabe von

Zehra muss ich allerdings noch mit dem Botschaftsrat besprechen.

Wir müssen die Damen ja auch standesgemäß unterbringen.“

Mit einem Handschlag wurde das Geschäft besiegelt. Die beiden

betroffenen Mädchen wurden nicht weiter gefragt und so

machte sich du Barry auf den Heimweg. Er erreichte in wenigen

Minuten seine wartende Kutsche und begab sich nach Ankunft am

Palast sogleich ins Büro des Botschafters.

„Nun…“, sagte der Botschafter gespannt, „…hatten Sie Erfolg?“

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„Ja…“, lächelte du Barry, „…eigentlich mehr als das!“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Wir müssen zwei Damen unterbringen. - Man hat mir die ältere

Schwester von Sophia, sie heißt Zehra, auch noch auf das Auge

gedrückt.“ Botschafter Boscamp schluckte hörbar, meinte jedoch

gleich darauf

„Wir werden das bewältigen! Machen wir es so, dass Sophia

bei mir im Palast unterkommt und ihre Schwester Zehra zunächst

bei Ihnen im Hotel.“

Du Barry überschlug gedanklich die Kosten, die da auf ihn zukommen

würden durch die monatliche Unterbringung von Zehra

und deren Verköstigung bei sich im Hotel. Von den zugesagten

1.550 Piaster einmal ganz zu schweigen. Davon erwähnte der

Franzose nichts; konnte er doch damit auch die hübsche Sophia als

sein Eigentum betrachten.

In den nächsten Tagen setzte im Palast des Botschafters emsiges

Treiben ein. Handwerker gaben sich die Klinke in die Hand. Es

wurde im ersten Stock des Gebäudes ein Boudoir eingerichtet.

Ursprünglich verstand man zur damaligen Zeit mit `Boudoir´ einen

kleinen, elegant eingerichteten Raum, in den sich die Dame des

Hauses jederzeit zurückziehen konnte. Das Boudoir, das der Botschaftsrat

für Sophia einrichten ließ, bestand im Grunde aus zwei

Räumen. Einem kleineren und einem größeren. Der kleinere sollte

als Ankleidezimmer dienen, der größere als Aufenthaltsund

Schlafraum. In Frankreich, das damals im 18. Jahrhundert nicht

nur von der Mode her in ganz Europa Maßstäbe setzte, fand sich

das Boudoir als Raumbezeichnung zwischen Wohnund Schlafzimmer

und stellte damit einen festen Bestandteil der Architektur

dar. In Frankreich bedeutet diese Bezeichnung aber auch einen

Löffelbiskuit – eine Kekssorte aus Othellomasse – ein leichter

Biskuit-Teig. Das soll auf die `Boudoir-Politik´ Talleyrands,

des großen französischen Staatsmannes und Diplomaten, in feinen

Hinterzimmern zurückzuführen sein, wo man den illustren Gästen

leichtes feines Gebäck reichte. Man kannte damals auch den Begriff

der Boudoir-Malerei. Das waren Werke berühmter zeitgenös

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sischer Maler, die im 18. Jahrhundert für die Verwendung in Privatgemächern,

mit heiteren und sinnlichen Motiven, vorgesehen

waren. Auch in Marquis de Sades Klassiker `Die Philosophie

Boudoir´ wurde der Rückzugsraum der Frauen mit erotischen Inhalten

aufgeladen.

Ein wunderbares Bett mit geschnitzten und vergoldeten Säulchen

und einem Baldachin mit angedeuteten drapierten Vorhängen,

eine kleine Anrichte mit einem Rokoko-Stühlchen davor und

darüber ein geschliffener Kristall-Spiegel vervollkommneten das

Zimmer. Nachdem die Tischler und Möbelschreiner zur damaligen

Zeit nicht auf Vorrat arbeiteten, wurden alle Möbelstücke auf Bestellung

und nach dem Entwurf des polnischen Botschafters und

des eleganten Franzosen eigens angefertigt. Dieses beanspruchte

eine gewisse Zeit. Nach etwa vier Wochen war man dann soweit

und es war alles vorbereitet, die hübschen jungen Gäste im BotschaftsPalast zu empfangen. Ein Zimmer für Zehra im Hotel anzubieten

war weniger von Bedeutung und mit weniger Umständen

behaftet. Es fand sich ein schön eingerichteter Raum in unmittelbarer

Nähe der Suite von du Barry in diesem Hotel. Nachdem die

beiden Damen jeweils nur zwei große Koffer als ihre ganze Habe

mitschleppen mussten, wurden sie an einem herbstlich gestimmten

Tag, wo das verfärbte Laub bereits zu fallen anfing, von zwei Lakaien

an ihrem Wohnhaus abgeholt. In einem an die Familie Glavoni

adressierten Brief, den einer der Lakaien bei der Abholung

überreichte, stand geschrieben:

„Verehrungswürdige Familie Glavoni, ich weiß was es bedeutet,

von einem oder sogar von zwei geliebten Familienmitgliedern Abschied

nehmen zu müssen. Man bringt seine Kinder nicht selten

unter schwierigen Umständen zur Welt, begleitet sie mit Sorge und

Fürsorge bis sie heranwachsen, um einem dann – so hofft man

wenigstens – im Alter eine Stütze sein zu können. Bis es jedoch

soweit ist, müssen die Kinder einen langen und oft dornenreichen

Weg zurücklegen, während dem Imponderabilien verschiedenster

Art auftreten können, sowohl auf Seiten der Kinder, als auch auf

Seiten der Eltern. Ob alles schließlich zu einem guten Ende führt,

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weiß keiner im Voraus. Sie tun demnach gut daran, Ihren Abschiedsschmerz

zu unterdrücken und ihn mit dem Gedanken zu

überdecken, dass zumindest zwei Ihrer Kinder mit einer guten

Ausbildung bei mir durch Sprachund Tanzunterricht, wie es sich

heute gehört, ein Fundament legen können, das sie in eine sichere

Zukunft weist. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, da Sie mir Ihr

Vertrauen schenken, seien Sie sicher, dass ich Ihre beiden Kinder

nicht nur gut aufbewahre, sondern sie auch bestens für Zukünftiges

präpariere. Ich darf noch anfügen, dass Sie beide und auch die

übrigen Geschwister von Sophia und Zehra jederzeit in meinem

Hause willkommen sind. Sie können die beiden immer, wann sie

auch wollen, besuchen. Freilich wäre es sinnvoll, wenn Sie

mir in einem solchen Falle zwei Tage vor einem eventuellen Besuch

eine Nachricht zukommen ließen. Mit besten Grüßen bin ich

immer Ihr Karol Boscamp-Liasopolski.“

Der Bote überreichte diese Zeilen den Eltern Glavoni und die sonst

so kaltherzige Mama der beiden Mädchen musste eine dicke Träne

verdrücken.

Boscamp hatte für den Empfang der beiden Mädchen alle Register

gezogen. In der Vorhalle des Botschafts-Palastes mit dem breiten

Treppenaufgang waren alle Bediensteten aufmarschiert: zwei

Pförtner, drei Stallburschen, 2 Köche und eine Köchin, vier Lakaien

und auch zwei Hausmeister hatten sich besonders herausgeputzt.

Auf den ersten Treppenstufen saß ein Spielmann und schlug

die Laute. Eine Reihe von Kerzenkandelaber wurde angezündet.

Die Mädchen und sogar der französische Gesandte du Barry waren

über ein solches, nicht erwartetes Empfangskomitee erstaunt. Als

Boscamp die zitternden, aufgeregten jungen Damen mit ausgesuchten

Worten würdevoll begrüßt hatte, sagte dieser am Ende

seiner Rede „…und nun darf ich Ihnen beiden Ihren Sprachlehrer

Monsieur Polignac vorstellen. Er wird sie in der Weltsprache

Französisch und in den Sprachen Polnisch, Deutsch und Russisch

unterrichten. Wenn Sie entsprechende Fortschritte machen, werden

wir auch noch Italienisch hinzunehmen. Er klatschte in die Hände

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und aus einer Seitentüre kam ein eleganter Herr mit weißer Perücke

und Monokel hervor, der sich vor den Damen höflich verneigte.

„„…außerdem…“, fuhr Boscamp fort, „..habe ich noch eine

besondere kleine Überraschung für Sophia, solange sie bei mir hier

im Hause wohnt. Du bekommst eine eigene kleine Kammerzofe,

die etwa in deinem Alter ist und auf den Namen Chantal hört.“ Er

klatschte wiederum in die Hände und ein leichtfüßiges Mädchen

mit blonden Haaren in einem wallenden Tüll-Kleidchen kam ebenfalls

aus einer Seitentüre auf die Empfangsgesellschaft zu.

Als die Zeremonie beendet war, nahm du Barry Zehra mit sich

zum Hotel und Boscamp führte Sophia zusammen mit ihrer neuen

Kammerzofe Chantal in das obere Stockwerk, wobei er bemerkte

„Fast hätte ich noch einen Menschen vergessen, den du auch

kennenlernen solltest. Das ist mein Neffe Mikolaj. Dieser ist nicht

ganz gesund und du solltest ihm einige Finessen, die er so an den

Tag legt, im vorneherein verzeihen.“

Er öffnete eine Tür zu einer erweiterten Kammer. Dort hockte

ein etwa 25 Jahre alter Bursche mit wirrem Haupthaar und einem

eigenartig starren Blick. Der junge Mann erhob sich und reichte

Sophia die Hand, indem er vor sich hin murmelte

„Ich bin Mikolaj und liebe alle Frauen!“ „Ja ja…“, sagte Boscamp,

„…es ist schon genug, wir wissen das.“ Er schloss die Tür

und führte die Damen zu einem weiteren Stockwerk ....

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