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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1:Poesie6
Kapitel 2:Jugendsünden im Gegenwind18
Kapitel 3:Reit- und andere Unfälle – oder war es Mord?37
Kapitel 4:Kriegszeit vom Totschlag bis zum Erdäpfel-Mord59
Kapitel 5:Von Freudenbuben und Freudenmädchen150
Kapitel 6:Prügel und andere »nichtbeabsichtigte« Körperverletzungen199
Kapitel 7:Nach Gegenwind kommt der Aufwind – Anleitungen zum Glücklichsein235
Kapitel 8:Wenn es Mord war, müssen auch Schafköpfe rollen!293
Kapitel 9:Entnazifizierung332
Kapitel 10:Lausbuben348

 

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ISBN: 978-3-96103-025-5
Preis: 14,95

Rücken- und andere Winde [Leseprobe]

Beispiele für positives Denken



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Kapitel: 1 Poesie

Mein Onkel Pep war einer von sieben Onkels, denn meine beiden

Eltern stammten aus fruchtbaren Familien.

Auf meines Vaters Seite waren es fünf Kinder und auf meiner

Mutters Seite waren es sechs Kinder. Ein paar der Kinder blieben

ein Leben lang »führerlos«, ich meine, ohne Ehe-Gespons, aber die

anderen waren verheiratet, fast ausnahmslos positiv eingestellt und

auch sehr fleißig.

Erstmal muss ich die Geschwister meiner Mutter vorstellen.

Der älteste Bruder hieß Xaver. Er war Offizier unter dem Verbrecher

Adolf und fiel bereits zwei Monate nach Kriegsbeginn, im Oktober

1939, als ich gerade einmal ein halbes Jahr alt war. Onkel

Xaver hatte sich mit ein paar Offizieren in einem Schloss, nahe

Posen, in Polen, verschanzt, und nachdem sie von der polnischen

Armee, also vom Feind eingeschlossen wurden, war es wohl unter

ihrer Würde, sich zu ergeben, und so haben sich alle – es waren

fünf an der Zahl – in den Kopf geschossen.

Der zweitälteste Bruder meiner Mutter war Onkel Hans, er war

Schneider von Beruf, und ein begeisterter Vegetarier. Als er eines

Tages mit seinen Vegetarierfreunden im Oberpfälzer Wald eine

Wanderung machte, haben sich alle Kollegen gewundert, wieso er

immer noch – nach stundenlangem Marschieren – so fit zufuß war.

Nach drei Stunden wurde Pause gemacht. Alle hatten als Wegzehrung

eine Blechdose mit Gemüse-Suppe dabei. Als Onkel Hans,

wie alle anderen seine Brotzeit auspacken wollte, fiel ihm sein

Blechgefäß aus der Hand und zutage kamen in der schönen GemüseSuppe etliche kleingeschnitzelte Wiener Würstchen, die natürlich

alles andere als vegetarischen Urspungs waren. Über diese blamable

Situation kam Onkel Hans nie hinweg und so trat er etwas

später aus dem Verein der Oberpfälzer Vegetarier wieder aus.

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Wie schon gesagt, er war Schneidermeister. Seine Frau, Tante Lina,

führte das häusliche Regiment und nachdem auch noch deren

Schwester, also die Schwägerin von Onkel Hans, bei ihnen wohnte,

kann man sich vorstellen, dass der arme, sowieso vom Naturell

unterwürfige und harmlose Onkel Hans von den beiden Damen

ziemlich dominiert und untergebuttert wurde.

Onkel Karl war der drittälteste Bruder meiner Mutter. Er war ein

braver, etwas untersetzter kleiner Mann, der ein Kolonialwarengeschäft

in der »Neuen Welt«, so hieß damals ein Stadtteil meiner

Heimatstadt, betrieb. Seine Frau, Tante Maria, half ihm im Geschäft,

so gut es ging. Sie hatte in frühen Jahren Kinderlähmung und

einen Schaden am Bein davon getragen, sodass sie gewaltig hinken

musste. Ich kann mir sie heute gar nicht anders als hinkend vorstellen

und Onkel Karl sagte immer, wenn wir Kinder etwas scheu auf

den hinkenden Fuß von Tante Maria schauten: »Ja ja, beide Beine

sind gleich lang, besonders das rechte!« Ich wurde da immer sehr

verlegen, aber meiner Tante machte das Gefrotzel nichts aus.

Der jüngste Bruder war Onkel Max, der eigentlich mein Favorit

war. Er war ein Lebemann, immer positiv eingestellt – und ich kann

mich noch gut erinnern, dass er in unserer oberpfälzer Kleinstadt

als Erster in den fünfziger Jahren einen schicken Opel-Kapitän fuhr.

Onkel Max war als aktives Narrhalla-Mitglied Faschingsprinz. Er

war Vorstand im Schwimmverein – das lag, vermute ich mal, an den

zahlreichen niedlichen Badenixen – und er hatte sich bei der FDP

als Bundestags-Kandidat aufstellen lassen. Letzteres war aber nicht

von Erfolg gekrönt, was dem Onkel Max nichts ausmachte. Meine

Mutter, die zwei Jahre älter war als »Maxl« – so nannte sie ihn immer

–, hat immer Mutterstelle bei ihm vertreten und wollte stets

gerne auf ihn aufpassen. Onkel Max nahm das eher mit Humor

und war wahrscheinlich gerade deswegen immer und überall ihr

gegenüber sehr hilfsbereit. Dabei muss man wissen, dass meine

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Mutter ein Leben lang korrekt und geradeaus war, immer konservativ

eingestellt und auf gute Sitten achtend.

Als ein Gerücht in unserer Kleinstadt umging, der Onkel Max hätte

eine sehr bekannte Geschäftsfrau geschwängert, die von ihm

einen Sohn gebar, ging Maxl generös über dieses böse Gerücht

hinweg, bis er den Fragen meiner Mutter nicht mehr ausweichen

konnte. Meine Mutter hatte nämlich anhand eines bei einem Fotografen

ausgestellten Kinder-Fotos des Kleinen eine untrügliche Ähnlichkeit

mit ihrem Bruder Max festgestellt. Als sie ihn damit konfrontierte,

sagte der Maxl zu ihr: »Was glaubst, wie viel kleine Kinder

mir hübschem Menschen ähnlich sehen.« Damit war das Kapitel

erledigt.

Onkel Max hatte schon früh geheiratet, nämlich meine Tante

Maria, die insbesondere in ihren jüngeren Jahren als Schönheit zu

bezeichnen war. Blond, gute Figur, charmantes Wesen. Auch sie

war, wie ihr Ehemann, der Onkel Max, den schönen Dingen des

Lebens nicht abgeneigt und als Maxl im Krieg war – er war junger

Leutnant an der Westfront – hat sie offensichtlich an der Truppenbetreuung

in der Heimat aktiv teilgenommen, was von meiner Mutter

natürlich wiederum sofort als verwerflich registriert wurde. Dem

Maxl hat sie aber nichts davon erzählt, dafür mochte sie ihn zu sehr.

Wahrscheinlich hat er sich das auch denken können, denn er war ja

im Krieg auch kein Kostverächter. Sein Optimismus war ihm Rückenwind

ein Leben lang.

Nun zu den Brüdern meines Vaters. Mein Vater Heinrich war der

älteste in der Familie, ihm folgte nach: sein Bruder Hans, mein

Taufpate, und Josef, den wir auch alle Onkel Pep nannten. Das war

der Christl-Pep. Dieser war bei der Reichsbahn beschäftigt. Er war

ein sehr ruhigerer Zeitgenosse. Seine Frau, die Tante Bettl, war

rothaarig. Damals ein sehr verdächtiges Zeichen, hindeutend auf

Temperament und unsteten Lebenswandel, was aber auf Tante

Bettl nicht zutraf. Die war jedenfalls lustig, auftreiberisch und einen

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Kopf größer als ihr Gatte, der Onkel Pep. Die beiden ergänzten

sich wahrscheinlich sehr gut. Er der Ruhige, sie die Lebendige.

Dann gab es in der Familie meines Vaters noch seine Schwestern

Theresia, Tante Resi, und Tante Betty, die auch gern die Männer

mochte. Tante Betty war kurzzeitig mit einem stattlichen, großen

blonden Hünen, dem Jörg, verlobt. Als dieser jedoch nach einem

Unfall querschnittsgelähmt war, löste sie zum Schrecken der ganzen

Verwandtschaft das Verlöbnis und blieb seither bis zu ihrem Lebensende

ledig.

Bei Tante Resi sind wir jetzt an der Stelle, wo wir zum eingangs erwähnten

Onkel Pep kommen. Jener Onkel Pep war Architekt, der

auch, soweit ich mich erinnere, schon immer im Staatsdienst auf

einer Baubehörde engagiert war. Onkel Pep war ein großer stattlicher

Mann mit einem etwas hinterkünftigen stillen Humor. Er war

für mich als Firmpate ausersehen. Er schenkte mir, wie das damals

in katholischen Kreisen so üblich war, eine Uhr zur Firmung, von

der ich vermute, dass sie schon einige Jahre auf dem Buckel hatte –

die Uhr – und wahrscheinlich das Erbstück vom Birner-Onkel war.

Der Birner-Onkel war damals schon ein hoch in den achtziger Jahren

stehender kleiner hochintelligenter Mann aus der Peißner-Linie.

Er hatte einen mächtigen Schnurrbart und immer eine kleine gebogene

Pfeife im Mundwinkel.

Fast hätte ich eine andere Tante Maria, eine ältere Schwester meiner

Mutti, vergessen. Tante Maria war eine lustige, lebensfrohe Person.

In ihrer Jugend äußerst attraktiv, hübsch mit blonden Locken.

Sie war wahrscheinlich nicht nur deshalb aktiv beim BDM – Bund

Deutscher Mädchen –, was ihr viele Bewunderer bei Mitgliedern

der damaligen Hitlerjugend einbrachte.

Ihr Sprech-Organ war leicht bayerisch/schwäbisch gefärbt. Wie

ihre anderen Organe beschaffen waren, weiß ich nicht. Nur so viel,

dass sie offenbar in ihrer Jugend und auch später derohalben eine

ganze Menge männlicher Verehrer hatte. Schon in früher Jugend

hatte sie ihre Jugendliebe, den Kreuzer Hansl, geheiratet, der aller

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dings in den ersten Kriegsmonaten des Zweiten Weltkrieges 1939

fiel. Sie hat dann ein paar Jahre später noch einmal geheiratet, was

nicht von Glück gesegnet war. Es erfolgte eine Scheidung.

Ihr Sohn, der Willy, war einer meiner Lieblings-Cousins. Dieser

Wahnsinnige hat sich mit achtzehn Jahren, wie so viele andere,

freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Noch in späteren Jahren, ich

glaube Tante Maria war schon über fünfzig, hat sie sich einen zwanzig

Jahre jüngeren Begleiter geholt, den Bopper, was schon für diverse

Qualitäten ihrerseits spricht. Mit ihm blieb sie bis zu ihrem

Lebensende glücklich zusammen.

Onkel Pep, der Peißner Pep, den ich anfangs beschrieben habe,

war mein Firmpate und, so weit ich mich erinnern kann, war die

Firmung sozusagen eine Doppel-Firmung, weil mein Vater als

Firmpate bei meinem Schulund Ministranten-Freund Peter, er war

ein Waise, der von seiner Tante Lina aufgezogen wurde, fungierte.

Er, der Peter, bekam auch eine Uhr und, was mir besonders in Erinnerung

ist, wir fuhren am Nachmittag mit einer offenen Pferdekutsche

eine Stunde lang durch die Gegend. Die Kutschfahrt war

besonders deshalb recht amüsant, weil eines der beiden Zugpferde

ständig furzte, wobei wir beide, der Peter und ich, lachen mussten.

Unsere Firmpaten hatten keine Ahnung, was der Grund unserer

Heiterkeit war und lachten einfach mit.

Also noch einmal zurück zu meinem Onkel Pep, der schon immer,

wie erwähnt, ein hinterkünftiger lustiger Zeitgenosse war. Seine

Ehefrau, die Tante Resi, war einen Kopf kleiner als Onkel Pep,

rund, hatte einen watschelnden Gang und ein flottes Mundwerk.

Onkel Pep dagegen war eher schweigsam und unterdrückte seine

Lustigkeit, wenn Tante Resi aufkreuzte. Sein Humor war eher doppelbödig

und man musste schon nachdenken, welches der wahre

Hintergrund seiner Späße war.

Meine kleine Schwester Moni, sie war neun Jahre jünger als ich,

kam eines Tages mit ihrem Poesie-Album zu mir und meinte ob

nicht Onkel Pep ihr einen schönen Vers ins Album schreiben

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könnte. Nachdem ich Onkel Pep des öfteren traf, sagte ich ihr zu,

das Album dem Onkel vorzulegen.

In der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, das Poesie-Album, das

damals alle jungen Mädchen hatten, durchzublättern.

Ich fand darin einige amüsante lustige Eintragungen.

Da gab es so wunderbar tiefsinnige Verschen, wie zum Beispiel:

Rosen, Tulpen Nelken

Alle Blumen welken

Nur die eine nicht

Denn sie heißt Vergißmeinnnicht

Schon etwas tiefschürfender war die folgende Eintragung einer ihrer

Schulfreundinnen, der Wirt Brigitte, einer süßen braven Metzgerstochter:

Du hast ganz recht

Die Menschen und die Welt sind schlecht

Ein jeder Mensch ein Bösewicht

Nur Du und ich, wir beide nicht!

Schon auf die gewaltig lustige Seite kam der Vers:

Bleibe lustig, bleibe froh

Wie der Mops im Paletot

Unsere Freundschaft endet nicht

Auch wenn der Mops französisch spricht

Sehr tiefsinnig war auch ein Spruch, den ihr einer unserer Nachbarn,

der Sohn vom Schreiner Schmid, ins Poesie-Album geschrieben

hatte:

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Versuchungen sollte man nachgeben.

Wer weiß, ob sie wiederkommen.

Natürlich war dieser Spruch nicht von unserem Nachbarn erfunden,

sondern, wie ich später feststellen konnte, von Oskar Wilde.

Auch Johann Wolfgang von Goethe wurde bemüht. Eine ihrer Tanten

hatte ihr ins Album geschrieben:

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut

Von Zweifeln geplagt war offensichtlich eine andere Schreiberin.

Sie schrieb:

Rosen sind rot

Veilchen sind blau

Ich hab Dich gern

Warum, weiß ich nicht genau.

Besonders rührend fand ich auch folgendes Gedicht:

Bis die Flüsse aufwärts fließen

Bis die Hasen Jäger schießen

Bis die Mäuse Katzen fressen

So lang werd ich Dich nicht vergessen.

In weiser Voraussicht hatte eine andere Schulfreundin geschrieben:

Gedanken mögen Dich begleiten,

Wenn wir auseinander gehn

In der Nähe in der Ferne

Rund und dick uns wiedersehn

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Offensichtlich war es eine ihrer Lehrerinnen, die folgenden Spruch

mit exakter schöner lateinischer Schrift ins Album schrieb:

Du bist ein schlaues Mädchen

In Deinem Kopf gehn viele Rädchen

In der Schul bist nicht sehr schlau

Und zuhaus machst Du Radau!

Wahrscheinlich hatte sie früh schon einen Verehrer, der schrieb ihr

ins Album:

In meinem Zimmer rußt der Ofen

In meinem Herzen ruhst nur Du

Nach längerem Blättern habe ich noch einige witzige und lustige

Verse entdeckt. Da hatte einer als anonym gekennzeichnet in

Druckbuchstaben einen Spruch geschrieben, der mir besonders

gefiel:

Du bist mein Glück, Du bist mein Stern

Auch wenn Du riechst, ich hab Dich gern!

In die ähnliche Richtung ging ein anderer Spruch, den ich weiter

hinten im Album entdeckt habe:

Ich bin ein kleines Mäuschen

Mit einem Blumensträußchen

Ich mache einen Knix

Und weiter weiß ich nix

Ich ließ ein Fürzchen fliegen

Mit Düften hin zu Dir

Ein Engel flog daneben

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Soll grüßen Dich von mir.

Ich wollt ein Kränzlein binden

Da kam die dunkle Nacht

Nur Blähung konnt ich finden

Die hab ich Dir gebracht!

Mit demselben Thema und äußerst witzig fand ich die Eintragung:

Eines Nachts ganz still und leise

Geht ein Fürzchen auf die Reise

Es fliegt dahin und kommt zu Dir

Und bringt Dir einen Gruß von mir.

Na ja, sie hätte wohl auf diesen Gruß verzichten können. Ich fand

ihn aber trotzdem ziemlich lustig. Ähnlich jenem Spruch, den auch

einer anonym ins Album gekritzelt hatte:

Sei nicht wie das Veilchen im Moose

Sittsam, bescheiden und rein

Mach ruhig einmal in die Hose

Ein bisschen Spaß muss sein!

Es war wohl eine sehr enge Freundin, die sich getraute folgenden

Spruch im Buch zu verewigen:

Du kannst so jung nicht bleiben

Bleib nur so frisch und rein

Du bleibst nicht so wie heute

Wirst alt und schrumplig sein!

Die Doppeldeutigkeit eines Wortes zu nutzen, finde ich auch nicht

schlecht. Da hieß es:

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Der braune Bär lebt in Sibirien

Du haust Dein’ Bruder mit dem Schuh

Das blöde Schwein lebt auf Sizilien

In meinem Herzen haust nur Du!

Ich war zwar einmal mit dem Deutschen Jugendaustausch auf dem

Weg nach Tunesien für eine Nacht in Sizilien, wie das aber der

Schreiber wissen konnte, bleibt mir rätselhaft.

Als ich einige Tage später endlich meinen Onkel Pep traf, legte

ich ihm das Album vor und bat ihn für meine Schwester ein paar

Zeilen hineinzuschreiben. Onkel Pep überlegte nicht lange, nahm

einen Stift zur Hand und schrieb ins Album, kurz und bündig:

Möge der Rückenwind in Deinem Leben

Nie Dein eigener sein!

Das fand ich nach kurzem Nachdenken großartig und das entsprach

auch genau dem hinterkünftigen Humor meines Onkels.

»Moment«, sagte Onkel Pep, als ich ihm das Buch aus der Hand

nehmen wollte

»Mir fällt da noch ein weiser Spruch ein, den habe ich aber von

Mark Twain geklaut, lass ihn mir noch der Moni ins Album schreiben«:

Wahrheit ist unser höchstes Gut,

Wir sollten sparsam damit umgehen!

Auch wieder so ein Spruch, der genau zu meinem Onkel Pep passte

und der in seiner stillen humorigen Art das Leben ertrug, wie es

kam. Dass er am Anfang der vierziger Jahre zu einer Spezialeinheit

beim Militär ging, lag wohl eher daran, dass er durch die vielen Appelle

endlich von zuhause wegkam und dass er einen Meter neunzig

groß war. Ein solches Gardemaß war bei diesen Kameraden gefragt.

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Er war auch, soweit ich weiß, in keiner Weise irgendwie parteipolitisch

tätig, was man nach dem Krieg ja vielen dieser Gesellen nachsagte.

Freilich hatte seine Mitgliedschaft dort nach dem Krieg eine

nachteilige Folge. Bei der Entnazifizierung musste ihm mein Großvater

Richard, der Richard Schwarz, zur Seite stehen und ihn entlasten,

damit die Entnazifizierung schneller von statten ging. Mein Opa

Richard war ein durch und durch geradliniger erzkatholischer

Mann. Aufrecht und geradeaus. Er ließ sich nie verbiegen. Er war

Sekretär der Christlichen Gewerkschaft, er war im Stadtrat und seit

jungen Jahren Mitglied in der Zentrumspartei. Obwohl ein paar

seiner Söhne begeisterte Hitler-Anhänger waren, war ihr Credo:

»Vater Du musst mit der Zeit gehen!« – sagte er schon 1933 in Gesellschaft

oder auch jedem, der es hören oder nicht hören wollte:

»Der Hitler ist ein Teufel und wird uns noch zugrunde richten.«

Ab Mitte der dreißiger Jahre war es üblich, dass man sich auf der

Straße mit dem Deutschen Gruß »Heil Hitler« begegnete. Wenn

Opa Menschen begegnete und sie ihm den Hitler-Gruß entgegenbrachten,

zog er tief seinen Hut mit einem lauten »Grüß Gott!«.

Seine Söhne Max und Karl warnten ihn deshalb sehr oft, doch

nicht so deutlich und öffentlich seine Meinung darzutun. Schließlich

führte auch seine unbeugsame Haltung dazu, dass eines Morgens

gegen 5 Uhr sechs Mann der Gestapo (der Geheimen Staatspolizei)

an seine Tür klopften und ihn verhafteten. Er wurde ins Gefängnis

gebracht und sollte ins Konzentrationslager Dachau überwiesen

werden. In einem Brief aus dem Gefängnis heraus schrieb Opa an

den damaligen Oberbürgermeister – einem großen Nazi – ob er

wohl vergessen hätte, dass mein Opa ihm in schlechter Zeit zwei

Zentner Kohlen besorgt hatte. Daraufhin wurde der Richard ohne

weiteren Kommentar entlassen.

Opa war christlich durch und durch, deshalb hat er auch meiner

Oma, die schon sehr früh verstarb – ich war damals gerade mal vier

Jahre alt – immer wenn er ihr beiwohnte, ein Kind gemacht. So

erklärt sich auch die große Geschwisterzahl meiner Mutter.

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Als er wieder einmal an einem Sonntagmorgen zu ihr ins Bett

schlüpfen wollte mit entsprechenden Absichten, sagte Oma »Bitte,

Richard heute nicht.«

Darauf sagte Opa in christlicher alttestamentarischer Überzeugung:

»Dann bist du nicht mehr mein Weib!«

Poesie in höchster Form!

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Kapitel 2: Jugendsünden im Gegenwind

Das weibliche Geschlecht hat mich schon von Kindesbeinen an

interessiert. Deshalb ist auch die Überschrift »Jugendsünden«nicht

richtig. Es müsste nämlich eher heißen »Kinderund Jugendsünden

«. Aber ob Kinder bereits sündigen können und ob auch die

nachfolgenden Jugendsünden als solche zu bezeichnen sind, wage

ich zu bezweifeln.

Ein gewisser Freigeist hat mich Zeit meines Lebens begleitet, und

etwas als Sünde zu bezeichnen hängt ja eng mit dem Verständnis für

Religion zusammen. Dieses Verständnis hat sich im Laufe meines

Heranwachsens deutlich geändert. Während ich noch in der Pubertät

reumütig meine Sünden in Gedanken, Worten und Werken im

Beichtstuhl los wurde, hat sich das, wie gesagt, im Erwachsenenalter

gewandelt.

Als ich etwa im Alter von drei oder vier Jahren eines Tages am

Mittagstisch zusammen mit meinen Eltern mein Süppchen löffelte,

sagte meine Mutter plötzlich: »Hansi, du hast heute Vormittag etwas

Schlimmes gemacht.«

Ich war mir keiner Schuld bewusst und fragte: »Was denn?«

Da sagte meine Mutter: »Ja, du hast an der Edda ihrem Wissi herumgespielt.

Das Jesulein hats gesehen und mir erzählt.«

Na sowas. Das mit dem Jesulein fand ich nicht ganz glaubwürdig

aber sofort wusste ich, was gemeint war, und ein ganz bestimmtes

unangenehmes Gefühl bemächtigte sich meiner.

Nun war meine Mutter weiß Gott keine bigotte Person, sie war

immer tolerant und auf der Sonnenseite des Lebens. Deshalb vermute

ich auch, dass es meinen Eltern heimlich enormen Spaß

machte, mich bei so etwas beobachtet zu haben.

Ich hatte auf der Altane genau unterhalb unseres großen Küchenfensters

mit meiner Nachbarsfreundin, der Edda, die genauso alt

war wie ich, gespielt und da wir nichts Besseres zu tun wussten, zeig

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ten wir uns gegenseitig die Unterschiedlichkeit unserer Geschlechter.

Das hat mich natürlich sehr interessiert, denn dass sich ihres

von meinem unterschied, war allerhand. Dass bei ihr kein Zipfelchen

hervorstand, wie bei mir, war höchst erforschenswert. Das

musste ich näher untersuchen. Ich nahm also einen Malstift, der

gerade zur Hand war, und untersuchte mit diesem die kleine Furche

zwischen Eddas Beinen, um festzustellen, wo denn das Zipfelchen

hin gerutscht sein könnte. Edda ließ sich das ganz gern gefallen.

Offenbar war es ihr gar nicht so unangenehm.

Die ganze Affäre hatte kein besonderes Nachspiel und meine

Mutter ging offenbar großzügig über die Sache hinweg. Sie maß ihr

keine besondere Bedeutung bei. Das sagte mir wiederum, dass ich

mir wohl schon in dieser Hinsicht einiges erlauben konnte, ohne

dass daraus unangenehme Konsequenzen entstünden. Eine fatale

Fehleinschätzung meinerseits.

Übrigens ist Edda in späten Jahren als Nonne in ein Kloster eingetreten.

Ich nehme jedoch nicht an, es war aus Buße für unsere

damalige Todsünde.

Das war das erste Erlebnis, das mir der Kontakt zur holden Weiblichkeit

einbrachte.

Eine erste große Liebe meiner frühen Kinder-Tage war die Ingrid

aus Hamburg.

Nach einem verheerenden Fliegerangriff im Jahre 1943 auf die

Hanse-Stadt Hamburg wurde dort ein Großteil der Bevölkerung

dieser Riesenstadt ausgebombt. Jugendliche und Kinder der Ausgebombten,

soweit sie überhaupt überlebt hatten, wurden in südlichere,

das heißt in sicherere Teile Deutschlands verschickt und die

Familien dort waren aufgerufen sich solcher Kinder anzunehmen.

Meine Familie, schon immer gut katholisch und hilfsbereit, hat sich

gleich gemeldet und so bekamen wir aus Hamburg die Ingrid de

Rath zugewiesen. Ich war zu dieser Zeit vier Jahre alt und Ingrid war

schon fünfzehn, was aber der Entflammbarkeit meiner Liebe zu ihr

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in keiner Weise abträglich war. Meine Zuneigung zu ihr war von

Anfang an ausufernd und ich umfasste zu jeder passenden und unpassenden

Gelegenheit hingebungsvoll ihre Knie, um sie zu drücken.

Zu höher reichte es nicht aufgrund meiner damaligen Körpergröße.

Ingrid war wirklich ein hübsches Mädchen. Ich empfand es jedenfalls

damals so. Sie hatte dunkelblondes langes Haar, meist zu

einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ein ovales hübsches

Gesicht und natürlich – wie kann es in diesem Alter und bei der

damaligen kargen Ernährung anders sein – eine schlanke schöne

Figur. Sie half meiner Mutter in der Küche und im Haushalt. Sie

hatte einen liebevollen angenehmen Charakter. War höflich, aus

gutem Hause, sozusagen, und deshalb auch gut erzogen. Ihr Papa

war im Krieg gefallen und ihre Mama blieb in der Hamburger Gegend

in einem Ausgebombten-Lager wohnen.

Neben der Beschäftigung Ingrids, meiner Mutter in vielen Haushaltsdingen

zu helfen, gab sie sich mit Liebe meiner Betreuung hin,

was ich ihr mit meiner ganzen Bewunderung vergolten habe. Meine

Liebe zu ihr wuchs und wuchs zu der wesentlich älteren Person

immer mehr.

Ganz besonders im Gedächtnis geblieben sind mir die fast täglichen

Spaziergänge, wo sie mich an der Hand führte und wir meist

in die nahegelegene Adolf-Hitler-Anlage gingen. Die hübsche fünfzehnjährige

Ingrid fiel offenbar auch den auf Heimaturlaub befindlichen

jungen Soldaten auf, die ebenfalls in der Anlage flanierten.

Viele gingen uns nach und Ingrid wies mich an, sie in diesem geografischen

Umfeld als »Tante Ingrid« anzusprechen. Sie wollte offenbar

damit vermeiden, dass ihre zahlreichen Verehrer aus der

Deutschen Wehrmacht vermuten könnten, ich wäre ihr frühgeborener

Sohn. Ich kam diesem ihrem Wunsch gerne nach und hätte

ihr sowieso alle wie auch immer gearteten Wünsche prompt erfüllt.

Besondere Aufmerksamkeit erregten wir beide nicht nur dadurch,

dass Ingrid ein hübscher Teenager, oder wie man damals sagte

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Backfisch, war, sondern dass ich immer, wenn uns Soldaten begegneten,

meine rechte Hand an meine Bommel-Strickmütze anlegte

und ihnen laut entgegenrief »Heil Hitler«. Das erregte neben meiner

Begleiterin natürlich die Aufmerksamkeit der jungen Soldaten,

was wiederum für diese Anlass war, mit meiner hübschen »Tante«

ins Gespräch zu kommen. Eifersucht war mir schon damals ein

Fremdwort. Mich amüsierte es, dass wir beide, Ingrid und ich, offenbar

überall Gefallen fanden. Noch dazu, da die Soldaten äußerst

freundlich zurück heilhitlerten.

Als meine Mutter von Ingrid erfuhr, dass ich mit meinem Deutschen

Gruß so viel Aufmerksamkeit erfuhr, ermahnte mich meine

Mutter, das zu unterlassen. Wir waren keine Nazi-Anhänger und

ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter jemals auf der

Straße den Hitler-Gruß verwendete. Da hieß es eher »Guten Morgen,

Frau Spanl« oder »Grüß Gott, Frau Lederer, viel eingekauft

heute?«.

Der Mittagstisch bei uns zuhause war eine feste pünktliche Einrichtung.

Mein Vater kam punkt zwölf Uhr von der Werkstatt herüber

und meistens wurden auch ein paar Lehrlinge oder Gesellen aus

meines Vaters Werkstatt mit verköstigt. Der Micherl aus Blaibach

im Bayerischen Wald, wo die Heimat unserer Vorfahren lag, war so

ein Lehrling. Er hatte mit seinen 15 Jahren immer einen mächtigen

Appetit und so verschlang er, wenn es am Donnerstag Knödl und

Schweiners gab, schon mal 8 bis 10 der runden Dinger, die immerhin

einen Durchmesser von wenigstens 10 cm hatten. Also nicht

klein waren. Innen mit Kräberln (geröstete Semmelwürfeln) und

u.a. selbstverständlich aus, mit der Hand durchgeriebenen, Kartoffeln.

Eine feine Sache. Meine Mutter war eine exzellente Köchin.

Da wurden während des Essens nebenbei belanglose Gespräche

geführt und wenn ich daran teilnehmen wollte, hieß es gleich »Hansi,

mit vollem Mund spricht man nicht«. Also hielt ich meinen

Mund und mammfte verdrossen meinen Knödel hinunter.

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Eines Tages, alle Gespräche waren momentan verstummt, fragte

mich mein Vater plötzlich: »Sag mal, kennst du eine Kraus Heidi?«

Ich kam in diesem Augenblick nicht auf die Idee, einen Namen zu

kennen, der bei uns daheim sonst nie erwähnt wurde. Also kam

gerade ein eher leises »Wieso?« aus mir heraus.

»Ja«, sagte mein Vati, »ich hab im Briefkasten einen Zettel gefunden,

auf dem stand drauf – Hansi liebt die Kraus Heidi.«

Ich wurde blass. So eine Gemeinheit. Da hatte einer mein tiefstes

Geheimnis, das ich mit acht Jahren schon haben konnte, verraten.

Abwechselnd wurde mir heiß und kalt und ich bekam gerade mal

ein »Ach die…« heraus.

»Ja, was ist mit der?«, wollte mein Vater wissen und ich antwortete

etwas verzagt: »Ja, die wohnt da vorn und ist eine Freundin vom

Peter.«

Aufgrund meiner Körperreaktionen – roter Kopf, zittrige Stimme,

- klang das als Erklärung nicht sehr glaubwürdig und alle Mitglieder

unserer Tafelrunde warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, was mir

aber in dieser Situation nicht auffiel.

Nun ja, die Sache war so: Zu diesem Zeitpunkt – also einige Jahre

nach dem Krieg, etwa 1948, ich war in der dritten oder vierten

Volksschulklasse, als mir auf dem Nachhause-Weg von der Schule

ein wunderbares Mädchen auffiel. Ich machte meinen Schulund

Ministranten-Kameraden Peter darauf aufmerksam und nachdem

ich mich alleine nicht getraut hatte, gingen Peter und ich zusammen

in verhaltener Verfolgungsschleiche der jungen Dame, sie war so alt

wie wir, nach. Dabei stellten wir fest, dass sie in der Nähe des Unteren

Stadttores in einem größeren Mietshaus wohnte. Nicht sehr weit

von mir zuhause entfernt. Sie verschwand also in der Haustüre, und

wie wir feststellen konnten, stand an der Glocke »Kraus«. Ich fragte

voller Mut eine Nachbarin, die uns offensichtlich beobachtet hatte,

wer denn das Mädchen wäre, sie hätte etwas in der Schule vergessen,

das wir ihr nachbringen müssten.

»Ja, das ist die Kraus Heidi.«

23

Das war ein erster Sieg.

Ich konnte drei Tage nicht einschlafen ohne an sie zu denken.

Und dem Peter ging es wahrscheinlich ebenso. Wir waren aber

gegenseitig nicht eifersüchtig aufeinander, sondern uns schmiedete

vielmehr die gemeinsame Liebe und das gemeinsame Bestreben, sie

näher kennenzulernen, ehern zusammen.

Wir überlegten natürlich ständig, wie wir mit Heidi näher in Kontakt

kommen könnten, und ich hatte die grandiose Idee, ihr doch

einmal eine unserer Pfefferminz-Kugeln, die damals in KinderKreisen sehr gefragt waren, anzudienen.

Ich hatte eine gehörige Angst vor der Aktion und fragte Peter, ob

er ihr nicht so eine Kugel überreichen wolle, wenn wir sie wieder

mal nach der Schule treffen sollten. Peter hatte aber wahrscheinlich

genau wie ich die Hosen ziemlich voll, sodass uns einige Tage die

Aufregung gefangen hielt. Schließlich nahm ich eines schönen Montags

all meinen Mut zusammen. Heidi hatte inzwischen gemerkt,

dass wir ihr ständig auf den Fersen waren, und so bot ich ihr mit

den Worten »Magst was Süßes?« eine der Pfefferminz-Kugeln, die

ich in einem Papier-Spitztütchen in der Hosentasche trug, an. Ich

hatte ein paar Tage vorher, sozusagen in Vorbereitung unserer Tat,

dieses Tütchen, in dem vielleicht fünf oder sechs Kugeln enthalten

waren, bei unserer Kramerin an der Ecke gekauft. Nun war es aber

Sommer und ziemlich heiß, sodass sich als ich das Tütchen aus der

Hosentasche fischen wollte, gewisse Schwierigkeiten ergaben, die

Dinger aus der Tasche zu ziehen. Es war alles total verklebt.

Aufgrund meiner lang geübten Frage aber, »Willst was Süßes«,

konnte ich nicht mehr zurück und so reichte ich ihr mit pappigen

Fingern eine der Kugeln, an der nicht minder viel Papier vom Tütchen

klebte. Sie griff zu meinem Erstaunen unvermittelt zu und

verschwand mit ein paar koketten Trippelschritten in ihrer Haustür.

Das war doch eine großartige Sache und wir waren nicht minder

stolz auf so viel Mut, wie wir ihn aufgebracht hatten.

24

Lange noch zehrten wir beide, der Peter und ich, von dieser erotischen

Tat und ich habe mir wenigstens zwei Tage lang meine klebrigen

Finger nicht mehr gewaschen, weil sie mich so immer intensiv

an die liebe Heidi erinnerten.

Wenn wir nun geglaubt haben, das Eis wäre gebrochen zwischen

uns und ihr, die Wellenlängen der Sympathie würden nicht nur von

uns zu ihr, sondern auch von ihr zu uns herüber schwabben, hatten

wir uns hinreichend getäuscht, denn als wir sie zwei Tage später

wieder von der Schule abholen wollten, nahm sie keinerlei Notiz

von uns. Sie ging fleißig plaudernd mit einer ihrer Schulfreundinnen

zu ihrem Fahrrad und radelte, ohne uns eines Blickes auch nur zu

würdigen, davon.

Sie hatte ein Fahrrad!, stellten wir fest. Das war ja ganz was Neues!

Unser Schlachtplan einer weiteren Annäherung musste neu durchdacht

werden. Und ich hatte auch schon eine Idee.

Ich sagte: »Peter, weißt was, wenn sie morgen wieder zu ihrem

Fahrrad geht, wir wissen ja, wo es steht, lassen wir ihr vorher die

Luft aus den Reifen.«

Peter sah mich ungläubig an und meinte: »… und dann?«

»Und dann haben wir einen Grund, ihr Fahrrad für sie heimzuschieben.«

»Das wäre eine Idee«, sagte der Peter, »aber wer spricht sie an und

wer schiebt?«

»Lass mich nur machen. Du sprichst sie an und ich schieb das

Radl.«

Peter hatte offenbar weniger Angst als ich, obwohl ich sonst immer

mit Mut ein großer Redner in der Schule war, und willigte ein.

Außerdem glaubte ich, dass meine Chancen steigen würden, wenn

ich eine solche Dienstleistung vollbrachte. Dass der Peter durch

seine Ansprache bei Heidi viel größere Chancen haben könnte, fiel

mir nicht ein.

Wir postierten uns demnach am nächsten Tag rechtzeitig so, dass

wir beim Aufschrauben des Schlauch-Ventils nicht gesehen werden

25

konnten. Die Luft entwich mit einem spöttischen Zischen und es

kam mir vor, als würde uns jemand auslachen. Erstmal aber ließen

wir den Dingen ihren Lauf. Geduldig sahen wir, wie Heidi lustig mit

einer Schulfreundin quatschend zu ihrem Fahrrad ging, das Radl

aus dem Ständer holte und gar nicht bemerkte, dass im Hinterreifen

keine Luft war.

Jetzt hieß es aber handeln. Ich stieß Peter in die Seite und forderte

ihn mit einem gepressten »Los« auf, die Heidi anzusprechen.

»Hallo Heidi, hast du schon gesehen, dass dein Hinterreifen keine

Luft mehr hat?«

Erschrocken sah das Mädchen auf den Hinterreifen ihres Rades

und sagte nur »Och je!«.

»Das ist doch kein Problem«, wagte ich zu sagen, »ich schieb dir

das Radl heim.«

»Vielen Dank«, säuselte die Heidi in meine Richtung.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals und mit vor Aufregung zitternder

Hand griff ich nach dem Fahrrad. Ein schönes blaues Fahrrad

mit einem tollen verchromten Lenker, was bei uns Buben immer

sehr wichtig war. Es war so ein Dreiviertel-Rad, also noch kein

ausgewachsenes Bycicle. Umso leichter glaubte ich, war es für mich,

das Rad für Heidi heimzuschieben.

Peter machte ein paar Bemerkungen, die ich nicht verstehen

konnte, was aber als Erfolg die Tatsache mit sich brachte, dass sich

die Heidi tatsächlich dem Peter zuwandte und mit ihm losging. Ich

schnappte mir das Fahrrad und vergewisserte mich erst einmal, dass

da keine Fahrradpumpe am Rad war. Solches wäre für unser Vorhaben

nicht gut gewesen. Dann hätten wir das Radl einfach aufpumpen

müssen und die Sache wäre erledigt gewesen. Die beiden

gingen also ein Weilchen so dahin. Großen Gesprächsstoff hatte

sich Peter offenbar nicht zurechtgelegt, denn es kam mir wie eine

stille Wallfahrt vor, die die beiden da veranstalteten. Ich folgte im

Abstand von ein paar Metern und beobachtete das schweigsame

Pärchen.

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Wahrscheinlich hielt mich das Beobachten der beiden so gefangen,

dass ich eine hohe Gehsteigkante übersah. Das Vorderrad des

mir anvertrauten Verkehrsmittels schlingerte. Der Lenker glitt mir

aus der Hand und ich fiel mitsamt dem blöden Ding auf die Straße.

Dummerweise strauchelte ich so ungeschickt, dass ich das Rad

unter mir begrub. Mein Knie, das ich natürlich in dieser Situation,

wie alle meine Gliedmaßen, nicht unter Kontrolle hatte, kam sehr

unsanft mit dem Pedal des Rades in Kollision. Dazu entstand ein

Mordslärm.

Alle Passanten staunten ob meines Sturzes und plötzlich merkte

ich, dass etwas Warmes an meinem Bein herunter rann. Ein Blick.

Oh je. Es war Blut. Die Wunde war zwar nicht bedeutend, aber sie

genügte, um einen schönen breiten Blutstreifen zu erzeugen.

Wie ich da so lag, ging mir folgendes durch den Kopf: Sollte ich

schmerzverzerrt liegen bleiben und damit meiner Angebeteten vielleicht

eine gehörige Portion Mitleid abgewinnen oder wäre es besser,

den Tapferen zu spielen und so zu tun, als wäre nichts passiert.

Dann könnte ich vielleicht ihre grenzenlose Bewunderung hervorrufen.

All diese Überlegungen schossen mir durch meinen Gehirnlappen,

während sich Heidi und Peter zu mir umwandten.

Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und lief auf das UnfallChaos zu. Da lag ich also mit leicht blutendem Knie und wahrscheinlich

einem ziemlich blöden Gesicht auf einem Fahrrad, das

mir nicht gehörte. In frommer Erwartung zumindest tröstender

Worte sah ich, wie sich mein Mädchen mitfühlend über mich beugte,

ihre Hand streichelte mein verwundetes Knie und ihre Lippen

berührten voller Gefühl und Trost meine Stirn.

Das alles träumte ich in diesem Augenblick.

Aber es war leider nur ein Traum. Die Wirklichkeit sah anders

aus und war ziemlich grausam. Heidi und Peter rannten auf mich

zu. Heidi blieb erschrocken vor dem Unfallknäuel stehen, klatschte

in die Hände und sagte zu meinem Entsetzen: »Ist mein Radl jetzt

kaputt?!«

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Nun, das Radl war in keinster Weise, mit Ausnahme des luftleeren

Hinterreifens, kaputt. Kaputt war meine Seele und unermesslich

groß meine Enttäuschung.

Das war der Gegenwind einer Jugendsünde, die gar keine war,

musste ich konstatieren.

Ein anderer süßer Schwarm meiner frühen Jahre, war die Karin

Erben. Sie war, als ich sie das erste Mal sah, etwa 12 oder 13 Jahre

alt. Sie war immer braun gebrannt, hatte eine samtene Haut,

schwarze Haare, war kurzum ein südländischer Typ – für mich ein

attraktives, äußerst hübsches Mädchen.

Ich fand heraus, dass sie als Schülerin in der Oberreal-Schule war,

und nachdem ich eines Tages nach Schulschluss auf sie lauerte, sah

ich, dass sie zusammen mit einer mir Bekannten aus unserer Nachbarschaft,

der Bauer Gerdi, aus dem Schulhaus lief. Die Bauer

Gerdi war eine meiner Nachbarinnen, die ich bis dahin wenig beachtet

hatte. Sie war auch für mich viel zu unscheinbar, hatte immer

strubbeliges Haar und ging meistens barfuß, was mir überhaupt

nicht gefiel. Nun wurde sie für mich plötzlich interessant, weil ich

sofort beschloss, sie am nächsten Tag einmal so ganz zufällig zu

treffen, um sie nach ihrer Schulfreundin auszufragen.

Bis dahin wusste ich natürlich noch keine Einzelheiten, also nichts

von ihrer hübschen, mir ständig im Kopfe herumschwirrenden

Freundin. Gerade mal, wo sie wohnte, jedoch keinen Namen und

sonst auch nichts. Am nächsten Tag also traf ich »rein zufällig« die

Gerdi und frage sie nach ihrer schwarzhaarigen Freundin von gestern.

»Ja«, sagte sie, »… das ist die Erben Karin, eine gute Schulfreundin

von mir, willst du sie mal kennenlernen?«

Da fiel mir das Herz in die Hose und ich sagte ganz verlegen:

»Nein nein, die gefällt nur einem Freund von mir recht gut und der

würde sie gern mal in die Eisdiele am oberen Markt einladen.«

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Es musste ungefähr ein halbes Jahr ins Land gehen, ehe ich den

Mut fasste, um die Erben Karin nach der Schule einmal anzusprechen.

Sie war freundlich, lächelte ein reizendes Lächeln und

war mir sichtlich überlegen in Dingen des Flirtens, beziehungsweise

in Dingen, mit andersgeschlechtlichen Personen umzugehen.

Ich war etwa im gleichen Alter wie sie. Aber sie nahm mich offensichtlich

von der falschen Seite her ernst, denn sie fragte unvermittelt:

»Wie heißt denn dein Freund?«

So, da stand ich also mit meiner Verlegenheitslüge, es wäre ein

Freund von mir, der sich für sie interessiere. Ich kam ins Stottern,

denn ich war überrascht, dass sie nach so langer Zeit – immerhin

fast einem halben Jahr – noch an eine Mitteilung dachte, die sie

über ihre Schulfreundin von mir erhalten hatte. Ich murmelte verlegen

einen Namen. »Walter« fiel mir gerade ein.

»Den kenn ich aber nicht«, sagte die Karin etwas wegwerfend –

und Verachtung, meinte ich, lag in ihrer Stimme.

Das habe ich jetzt davon, dachte ich mir, dass ich nicht ehrlich war,

und ich fasste den Entschluss, in Zukunft, wenn es die holde Weiblichkeit

betraf, immer ehrlich zu sein, was mir später allerdings auch

keinen dauerhaften Erfolg einbrachte. Mein Verlangen, Karin von

der Schule abzuholen hielt sich ab sofort in Grenzen, denn offenbar

hatte sie an meinem imaginären Freund »Walter« mehr Interesse

als an mir.

Als ich meine Nachbarin, Karins Schulfreundin, nach ein paar

Wochen zufällig auf der Straße traf, sagte mir Gerdi: »Ich soll dir

von der Karin einen lieben Gruß ausrichten.«

Was, höre ich da richtig? Einen Gruß und einen lieben noch dazu?

Mir wurde heiß und kalt. Die von mir seit Monaten angebetete

Karin hatte vielleicht Interesse an einer näheren Bekanntschaft mit

mir? Das konnte doch nicht sein. Als nach ein paar Tagen die Gerdi

wiederum mir einen schönen Gruß von Karin ausrichtete, flammte

mein Herz voller Freude auf. An dieser Sympathie, die offenbar

plötzlich auf Gegenseitigkeit beruhte, war wohl etwas dran?!

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Jetzt hieß es aber nicht länger zögern, sondern Angriff auf der ganzen

Linie. Ich sagte Gerdi: »Richte der Karin bitte auch einen lieben

Gruß aus und frag sie, ob sie mich morgen Nachmittag an der Eisdiele

in der Maxstraße treffen wolle. Ich lade sie zu einem Eis ein.«

Drauf sagte Gerdi: »Mein Lieber, das wird wahrscheinlich nicht

möglich sein, denn die Karin ist mit ihren Eltern gestern nach Düsseldorf

gezogen.«

Mir klappte der Unterkiefer herunter. Alle Hoffnungen waren zunichte

gemacht. Bis in die Haarwurzeln wurde mir kalt. So ein

Pech. Ich musste mich an einem Laternenpfahl festhalten.

Soviel Gegenwind hatte ich noch nie in meinem Leben erfahren.

Nun ja. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich wohl als

Gleichaltriger für sie auf die Dauer doch nicht tragbar gewesen wäre.

Sie attraktiv, weit über ihr tatsächliches Alter hinaus, mit einer

Figur wie eine Zwanzigjährige ausgestattet und darüber hinaus sportlich,

braun gebrannt und stramm. Ich dagegen konnte keine Sonne

vertragen, hatte blasse Haut und war von meiner Veranlagung her in

höchstem Masse unsportlich. Außerdem sah ich für mein Alter bestimmt

um drei bis vier Jahre jünger aus.

Karin ist mir heute noch im Gedächtnis und hat mich damals

schwer beeindruckt.

Obwohl, wie erwähnt, unsportlich bis in die Knochen, hatte ich

mich inzwischen zusammen mit meinem Nachbarsfreund, dem

Breitner Werner, beim Reiterclub angemeldet. Von meinem ersten

Lehrlingsgehalt durfte ich mir mit Erlaubnis meiner Mutter meine

ersten Reitstiefel kaufen. Eine tolle Sache. Mit solchen Stiefeln an

den Beinen war man ein anderer Mensch. Schon das Gehen mit

ihnen erzeugte beeindruckendere Geräusche als sonst und vom

strammen Aussehen her ganz zu schweigen.

Werner und ich fuhren zweimal pro Woche zum Reitstall am

Schwedentisch, so nannte man das dortige Ausflugsrestaurant und

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die dazugehörige Reitanlage. Wir nahmen Reitunterricht beim Reitlehrer

Friedel Gröhm.

Gröhm Friedel war ein untersetzter, etwas dicklicher junger Mann

etwa in den dreißiger Jahren, der von sich glaubte, etwas vom

Reitsport und von den dazugehörigen Reittieren zu verstehen. Heute,

wenn ich darüber nachdenke, muss ich feststellen, dass er eigentlich

doch wenig Ahnung hatte. Wenn eines der Reitpferde, egal,

wer oben saß, nicht ganz so wollte wie er, bückte er sich, griff in die

Sägespäne und warf mit diesem losen Knödel nach dem Pferd, was

dem Tier dann überhaupt nicht gefiel und noch weniger dem, der

auf dem Tier Platz genommen hatte. Ein nervöser Sprung des erschrockenen

Pferdes genügte, um den Reitlehrling in hohem Bogen

zu Boden zu befördern.

Im Reitstall gab es Privatpferde, die Privatbesitzer dort untergestellt

hatten, und die sogenannten Club-Pferde. Die Club-Pferde

waren charakterlich sehr unterschiedlich strukturiert. Da gab es den

Prinz, ein hochbeiniger Hannoveraner Fuchs. Nachdem ich unter

den jungen Reitschülern der körperlich größte war, hatte man mir

gleich den hochgewachsenen Prinz zugeteilt, sodass ich diesen in

den ersten Reitstunden benutzen durfte.

Der arme Kerl wurde von mir wahrlich »benutzt« und ein Großteil

meiner ersten Reiterfolge – dass ich zum Beispiel oben blieb auf

seinem Rücken oder dass er in die Richtung ging, die ich auch wollte,

war seinem, des Prinzen, erfahrenen und seinem Pferdeverstand

einem unerfahrenen Reitsportler gegenüber, zuzurechnen.

Wir trainierten erstmal in der Reithalle. Lernten Schritt, indem

der Gröhm »Scheritt« schrie. Wir lernten den richtigen Sitz, indem

der Gröhm lauthals schrie : »Arsch zusammenkneifen – die Fußspitzen

geradeaus richten – Schenkel ran an den Pferdebauch«, war

das nächste Kommando und die Faust, welche die Zügel hielt,

musste ruhig und senkrecht gestellt sein. So viele Dinge auf einmal

sich zu merken, war gar nicht so einfach.

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Mein armes Reittier, der Prinz, musste mich auf seinem Rücken

erdulden. Nun ja, er war ein Wallach, hatte also keine Eier mehr

und deshalb, so glaubte ich zumindest, fromm und geduldig. Trotzdem

hatte er zu meiner Überraschung Hengstmanieren. Wir ritten

in der Formation einer hinter dem anderen immer im Kreis in der

Halle herum, und wenn Lotte, ein braves schon ziemlich abgestumpftes

Club-Pferd in nicht mehr jungen Jahren, vor meinem

Prinz einherschritt, gebärdete sich Prinz manchmal wie ein junger

Hengst und wollte ständig der Lotte auf den Pelz rücken, ich meine

auf das Fell rücken. Ich konnte meinen Prinz fast nicht zügeln.

Nach den ersten beiden Reitstunden mussten wir zum ersten Mal

antraben. Das Kommando von Gröhm hieß dann »Terrabb«.

Das klappte natürlich bei uns Anfängern nicht auf Anhieb. Der

Gröhm verlor die Geduld und schrie zum wiederholten Male

»Schenkel klopfen und Terrabb, Hans, zwick den Arsch zusammen

und gibt dem Tier endlich die Sporen«.

Gut gesagt, denn Sporen durften wir Anfänger natürlich noch lange

nicht tragen. Ich klopfte also mit meinen Beinen vehement auf

den Bauch des Tieres und endlich sprang der Prinz von Schritt in

den Trab. Das war aber nun ein anderes Gefühl. Erst einmal hatte

ich mächtig zu tun das Gleichgewicht auf dem Pferd zu halten und

außerdem schüttelte mich der Trab des Tieres gehörig durch.

Auf und Ab. Auf und Ab. Verheerend. Ich klammerte mich mit

beiden Händen an den Sattelknauf, damit ich nicht herunter fiel

und so gelang es mir langsam, aber sicher, mich mit der Gangart des

edlen Pferdes anzufreunden.

»Du musst beim Trab aussitzen«, rief der Gröhm.

Was heißt hier aussitzen?, dachte ich. Ein Ereignis, das nicht enden

will, kann man mit viel Geduld aussitzen aber auf diesem, noch

dazu sehr hohen Pferderücken und bei gehöriger Geschwindigkeit

»aussitzen«, was soll das denn bedeuten?

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»Wenn ich ein 5-Mark-Stück unter deinen Arsch lege, dann darf

es nicht herunterfallen. So musst du beim Trab aussitzen.«

Aha, jetzt verstand ich, was der Kamerad meinte, und mit der Zeit

klappte es dann auch ganz passabel.

»Gib dem Tier die Schenkel«, rief Gröhm. Das Tier wollte aber

meine Schenkel nicht und ließ sich oft nicht aus dem »Scheritt«

bringen.

Ein besonders aufregendes Ereignis war, als es hieß: »Nächstes

Mal reiten wir ins Gelände.« Werner durfte die lammfromme Lotte,

die inzwischen maulund schenkellahm war, ins Gelände reiten,

und ich musste mit meinem nervösen Prinz vorlieb nehmen. Das

ging auch bei unserem ersten Ausritt ins Gelände ganz gut, aber ich

war total nervös. Wir ritten einen Waldweg entlang und kamen

nach einer Viertelstunde an des Waldes Rand. Wir hielten am

Waldrand an und vor uns tat sich eine endlos erscheinende Wiesenfläche

auf. Das bemerkte auch mein Reittier sofort und setzte

sich, ohne ein Zeichen von mir abzuwarten, in einen schnellen wilden

Galopp. Wie ich später erfahren habe, war es eine Marotte von

Prinz, immer, wenn er solch eine weite Fläche vor sich sah, einfach

loszurennen.

Wie eine Furie raste also der Prinz mit mir auf dem Rücken los,

so als wäre der Teufel hinter ihm her. Ich versuchte mich, so gut es

ging, im Sattel zu halten und gab Paraden – wie man das in der Reiterfachsprache

nennt, wenn man ruckweise am Zügel zieht – ich zog

mit aller Kraft die Zügel zu mir heran. Aber Prinz biss offenbar auf

das Zaumzeug und legte eher noch einen Zahn zu. Nun hatte ich in

einem Reiterbuch gelesen, wenn ein Pferd im Galopp auf einer

weiten Fläche durchgeht und nicht aufzuhalten ist, sollte man einfach

versuchen, einen großen Kreis einzuschlagen und diesen Kreis

immer enger und enger reiten, sodass am Ende das wilde Tier stehen

blieb. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ich nahm

also den linken Schenkel ran ans Pferd, zog den linken Zügel an.

Mein lieber Prinz machte auch drei oder vier Galopp-Sprünge nach

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links, so wie ich es geplant hatte, aber plötzlich änderte er nach ein

paar Sprüngen die Fahrtrichtung und brach nach rechts aus. Ich

lüftete unfreiwillig meinen Sitz, sprich, ich flog in hohem Bogen aus

dem Sattel, denn ich hatte mich ja voll und ganz auf eine Reise nach

links eingestellt. Ich blieb allerdings mit dem linken Fuß im Steigbügel

hängen und so zog mich das Tier dreißig oder vierzig Meter

mit sich. Ich wusste nicht mehr, was oben und unten war. Pferdehufe,

Zügel und Grasballen tanzten vor meinen Augen wild durcheinander,

bis schließlich der Prinz ein Einsehen hatte und einfach mit

mir am Steigbügel unvermittelt stehen blieb.

Ich muss ausgesehen haben wie ein maroder Fisch an der Angel

eines Fischers.

Hinter mir brach lautes Gelächter aus, denn ein Sturz vom Pferd

bedeutete in diesen Reiterkreisen, dass man eine Runde Schnaps

zahlen musste. Der Reitlehrer hatte mich inzwischen eingeholt,

grinste über alle Backen und sagte zu mir:»Nichts gehört vom Linksund

Rechts-Galopp? Du Reitkünstler!«

Ich schaute verblüfft nach oben. Ich befand mich noch im Stadium

des Karussellfahrens, alles drehte sich um mich herum und

dann saß ich in der Wiese und fragte blöd: »Was für einen LinksGalopp?«

»Nun ja, wenn das Pferd im Galopp mit dem linken Vorderbein

ausholt, dann ist das ein Links-Galopp. Wenn es aber mit dem

rechten Bein ausholt, so ist das ein Rechts-Galopp – und du musst

immer, wenn du Galopp reitest, darauf achten, welchen Galopp das

Pferd eingeschlagen hat«, dozierte mein Reitlehrer recht gescheit

daher und ich verstand nur die Hälfte. Mein Reittier hatte demnach

einen Rechts-Galopp begonnen, ich wollte einen linken Kreis reiten

und so sprang Prinz aus einer natürlichen Bewegung heraus plötzlich

nach rechts weg, weil das eben in seine Gangart passte.

Nun ja, ich war eine Erfahrung reicher und erkannte so die Bedeutung

von Linksund Rechts-Galopp. Einmal sah ich, wie bei

einer Dressurprüfung der Reiter mit seinem Pferd einen sogenann

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ten fliegenden Galopp-Wechsel hinlegte. Das Pferd sprang spielend

leicht von links nach rechts und von rechts nach links im verhaltenen

Galopp. Eine tolle Sache, was man aber eben nicht mit einem

Club-Pferd machen kann, denn fliegende Galopp-Wechsel müssen

trainiert sein und dazu braucht man wirklich auch ein entsprechendes

Pferd.

Es gab am Schwedentisch auch einen privaten Reitlehrer, der Privatstunden

gab, das war der Todt Lazy. Ein Ungar, der einmal Bereiter

an der Wiener Hofreitschule war.

Er verbrachte wahrscheinlich seinen Lebensabend bei uns in der

Oberpfalz und verdiente sich mit privaten Reitstunden so noch ein

paar Brötchen zur Rente dazu. Alle bewunderten diesen Mann, der

ein wahrer Pferdeflüsterer war. Er verstand unendlich viel von der

Pferdepsychologie und konnte sich regelrecht in die Tiere hineinversetzen.

Von Monty Robberts war damals noch lange nicht die

Rede.

Wir hatten einmal ein Club-Pferd, das sehr schreckhaft war und

insbesondere von Zuschauern, die an der Reitbahn mit einem Regenschirm

standen, überhaupt nicht begeistert war. Das Pferd

sprang dann auf der Höhe dieser Zuschauer in weitem Bogen aus

der Bahn. Todt Lazy sagte in seinem gebrochenen UgarnDeutsch: »Hast du gesähen, werden wirr reparieren!«

Zwei Jungreiter und ich wurden mit Regenschirmen bewaffnet.

Wir mussten uns wie übliche Zuschauer an die Reitbahn stellen mit

aufgespannten Schirmen, die noch dazu in ihren Farben rot, blau

und hübsch kariert recht aufreizend leuchteten.

Todt stieg auf das besagte Pferd und ritt mit ihm die Bahn entlang.

Auf Höhe unserer Regenschirme sprang das Tier jedoch mit zwei

Sätzen nach links aus der Bahn. Todt führte unbeeindruckt das

Pferd ganz ruhig wieder in die Bahn zurück und ritt weiter, als wäre

nichts passiert. Nach endlosen zehn oder fünfzehn Runden hatte

sich das Tier an die Regenschirme gewöhnt. Hatte verstanden, dass

hier wohl keine Gefahr drohte und die Regenschirm-Angst war be

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siegt. Mit unendlicher Geduld und ohne das Tier jemals für seine

»Seitensprünge« zu bestrafen, hatte der Pferdeflüsterer erreicht, was

wir alle nicht für möglich gehalten hatten.

Ein anderes interessant/lustiges Erlebnis war ein Nachtritt im Gelände.

Zwei Pferde vor mir ritt mein Freund, der Breitner Werner,

und ein Pferd vor mir auf der Traviata, einem ebenfalls braven und

ruhigen Tier, ritt der Schertel Walter, auch einer unserer Jungreiter.

Ich kam als Dritter mit meinem Prinz. Es funktionierte eigentlich

alles ganz gut. Wir machten nach einer Stunde eine Pause, stiegen

von den Pferden, unterhielten uns kurz und bestiegen die Tiere

wieder, um umzukehren. Vor mir wieder der Schertel Walter, dessen

Pferd Traviata offenbar keinen allzu guten Orientierungssinn

hatte, oder lag es am Reiter, denn einmal ging die Traviata mit

ihrem Reiter auf dem Rücken nach links in den seichten Graben,

dann kam sie mühselig wieder auf den Weg zurück und ein paar

Schritte später wiederum enteilte sie strammen Schrittes nach rechts

in den Wald, zwischen die Bäume. Dieses Spiel ging eine ganze

Zeit lang, bis wir schließlich vor dem Reitstall anlangten. Der Walter

meinte auf meine Frage, warum er so im Zick-Zack geritten war:

»Ich habe keine Ahnung, das liegt wohl an dem blöden Tier hier«.

»Meinst du nicht, dass etwas an der Steuerung defekt war«, fragte

ich ironisch.

Der Walter schüttelte den Kopf. Als ich näher hinsah, bemerkte

ich, dass der Walter offenbar bei unserer Pause im Wald, vor dem

Aufsitzen zum Heimweg, die Zügel vertauscht hatte. Er hatte also

den linken Zügel in der rechten Hand und den rechten Zügel in der

linken Hand. Immer wenn er also nach links wollte und mit der

linken Hand anzog, war für die Traviata der Zug im Maul in Richtung

rechts und umgekehrt. Das arme Tier wusste schließlich nicht

mehr, was los war. Es war nur dem ruhigen Gemüt der Traviata zu

verdanken, dass diese das Spiel mitmachte und halt einmal nach

links und einmal nach rechts kurvte. Ein nervöses Pferd hätte hier

wohl anders reagiert.

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Der Spott war groß unter den Mitreitern, »aber«, so sagte Walter,

»in der Dunkelheit kann manches und das auch schon mal passieren.«

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Kapitel 3: Reitund andere Unfälle – oder war es Mord?

Der Reiterclub am Restaurant Schwedentisch war ein gemischtes

und manchmal lustiges Völkchen aus allen Gesellschaftsschichten.

Von der Unternehmersgattin über den einfachen Streifenpolizisten

bis herunter zu uns mittellosen Jungreitern war hier alles vertreten.

Vorstand war ein Dr. Soder, ein Fotzenspangler (Zahnarzt) seines

Zeichens. Ein schmalbrüstiger, schlanker Herr, für den der Reitsport

offenbar Prestigesache war. Immer wenn er in seinem hochpreisigen

Borgward vorfuhr, wartete er mit dem Aussteigen so lange,

bis etliche Herrschaften auf ihn aufmerksam wurden, die dann feststellen

mussten, mit welch elegantem Schwung er trotz seiner fünfzig

Jahre – also mittleren Alters – aus dem Wagen sprang. Wiegenden

Schrittes ging er dann auf den Pferdestall zu, wobei er sich immer

kräftig mit der Reitpeitsche auf seine Stiefel klopfte, ein knallendes

Geräusch, das ich so schnell nicht vergesse.

Es gab auch einen festangestellten Stallmeister, das war Herr Skorupa.

Und wehe diesem armen abgearbeiteten dürren Männlein,

wenn es nicht unter der Stalltüre den Herrn Doktor der Zahnmedizin

und Vorstand des Clubs gebührend begrüßte.

Ein noch nicht sehr lange zum Club dazugekommenes Mitglied

war Herr Kaufmann. Ein untersetzter, etwas dicklicher Mensch mit

einem runden Kopf, was besonders dadurch zum Vorschein kam,

weil er keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Er war einer, der

alles besser wusste und alles besser konnte, was wahrscheinlich daran

lag, dass er von Beruf Ingenieur war. Er war bei einer der zahlreichen

örtlichen Porzellanfabriken in leitender Position, wie man

so sagt. Er konnte sich trotzdem kein eigenes Pferd leisten und

musste deshalb auf die sogenannten Club-Pferde zurückgreifen.

Mir tat das Tier, das er sich aussuchte, immer leid, denn er war zunächst

einmal übergewichtig und hatte, was jeder merken konnte,

vom Reitsport keine Ahnung. Das tat allerdings seinem Selbstbe

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wusstsein keinen Abbruch, denn offenbar lebte er auf diesem und

auch auf anderen Gebieten in großer Selbstüberschätzung.

Eine ganz besonders markante Figur war der Koch Sepp. Ein

Polizeibeamter mit einer Größe von einem Meter neunzig, schlank,

durchtrainiert, damals etwa vierzig Jahre alt, immer braun gebrannt

mit wiegendem Gang, einer markanten Haken-Nase ausgestattet

und einem Oberlippenbärtchen, das seinem ganzen Aussehen eine

gewisse Strenge verlieh. Streng war er aber nur, wenn er einer der

Damen, die über ein eigenes, wir nennen es Privatpferd, verfügten,

Reitunterricht gab. Er war ein guter Reiter. Und es war zu vermuten,

dass er seine Erfahrungen auf dem Rücken eines Kavallerie-Pferdes

im Zweiten Weltkrieg erlangt hatte.

Ja, und dann gab es natürlich noch eine ganze Reihe hübscher,

mehr oder weniger junger Damen, die das Gesamtbild der Clubmitglieder

in die Höhe brachte. Besonders in Erinnerung ist mir die

Wiltrud Feller, eine junge Frau so um die Dreißig, fesch und burschikos,

eine ganz gute Reiterin. Sie hatte ein eigenes Pferd im Stall

stehen, das war die Ludovica, eine wunderbare ApfelschimmelStute, die nur sie und ihre jüngere Schwester, die Ulli, reiten durfte.

Wenn sie mit ihrer Ludovica in die Bahn ritt, stand der Koch Sepp

in der Mitte des Platzes und gab im strengen Polizei-Befehlston

seine Anweisungen: »Trudi, Absatz tief. Fäuste ruhig halten, Pferd

an den Zügel nehmen, v e r s a m m e l n !«

Oft war es auch der oben erwähnte Todt Lazsy, der mit weißem

Haupthaar und weißem gewaltigem Schnurrbart den Feller-Damen

Unterricht gab. Wiltrud Feller gefiel mir gut. Ebenso gefiel sie

einem Jungunternehmer, der in der Nähe unseres Städtchens erfolgreich

eine immer stärker wachsende Firma aufgebaut hatte.

Heute ist seine Firma ein weltweit bekanntes Unternehmen mit ein

paar hundert Einzelhandels-Filialen in Deutschland.

Noch besser als die Wiltrud gefiel mir allerdings ihre jüngere

Schwester, die Ulli, die mit ihren sechszehn oder siebzehn Lenzen

Verehrer ohne Ende hatte. Schon ihr Gangwerk ließ uns junge Bur

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schen dahinschmelzen. Sie wippte dabei, besonders, wenn sie ihre

kurzen Kleidchen mit Petticoat trug, und ihre frische stramme Figur

machte Eindruck auf jeden.

Natürlich gab es immer, wenn wir im Reitstall zugegen waren, eine

ganze Reihe von Personen, die nur als Zuschauer einfach den Reitbetrieb

betrachteten und zuschauten.

Da gab es ein älteres Ehepaar, das nicht so gern vom Stallmeister

gesehen war, weil es immer ohne besondere Erlaubnis (Unbefugten

ist der Zutritt nicht gestattet) in den Stall ging, und wenn eines der

Pferde seinen Kopf aus der Box streckte, dieses mit Zuckerstücken,

Gebäck oder kleinen Äpfeln fütterte.

Auch eine ganze Reihe junger Burschen versammelten sich auf dem

Reitgelände, ohne Mitglied im Club zu sein. Ich nenne sie hier

»unsere Freunde« – und man wusste nicht genau, ob sie mehr Interesse

am Reitbetrieb oder an den anmutigen jungen ReitAmazonen, die sich auf dem Pferderücken durchschütteln ließen,

wobei allerhand ins Wackeln geriet, hatten.

Da war noch Frau Kreisl, ein Mütterchen so um die Siebzig, die

rund um die Reitbahn fleißig Milchscheckl, Löwenzahn, einsammelte.

Als ich sie eines Tages fragte, ob sie denn die Milchscheckl

für die Pferde sammele, sagte sie: »Nein, die sind für meine Hasen

eine Leibspeise.«

Das Vereinsleben im Reiterclub war immer aufregend und abwechslungsreich.

Aufregend deshalb, weil man als Nutzer der Pferde

nie genau wusste, was heute wieder passieren würde.

Einmal waren unsere Reittiere friedlich und ließen alles mit sich

machen und dann wieder waren sie nervös und zickig, was für uns

Anfänger höchste Konzentration und gehörigen Mut verlangte. Zwischendurch

durfte ich auch auf der Lotte reiten, was besonders anstrengend

war, weil die gute Stute weder auf Zügel noch auf Schenkeldruck

ordentlich reagierte.

Welche Unterschiede es gab zwischen Reitpferd und Reitpferd,

konnte ich erfahren, als ich einmal auf dem deutsch-amerikanischen

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Volksfest in Grafenwöhr, wo sich heute noch ein amerikanischer

Truppenübungsplatz befindet, überraschenderweise zum Einsatz

kam.

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