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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1:Die erste Liebesnacht10
Kapitel 2:Die Mäusebutter34
Kapitel 3:Das Erbschaftspulver41
Kapitel 4:Die italienische Liebe70
Kapitel 5:Das Erbe ist zu klein124
Kapitel 6:Der Bernsteinschmuggler131
Kapitel 7:Der alte Freund148
Kapitel 8:Der Ehemann Gottfried163
Kapitel 9:Das Gift - von Frauen bevorzugt170
Kapitel 10:Der französische Tod218
Kapitel 11:Das Frankreich der Marquise de Brinvelliers229
Kapitel 12:Das Misstrauen des Vaters247
Kapitel 13:Der französische Hof unter Verdacht290
Kapitel 14:Die Flucht320
Kapitel 15:Die Folter und die Hinrichtung365
Kapitel 16:163 Jahre, 9 Monate und 4 Tage später in Bremen373
EPILOG:Die Banalität von Gut und Böse377
Quellen385

 

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Preis: 17,95

Italienische Liebe – Französischer Tod [Leseprobe]

Serien-Giftmorde im 17. und 19. Jahrhundert.
Ein historischer Tatsachenroman ...



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Kapitel 1

Die erste Liebesnacht

Dann, ohne sich des Weiteren um seine Begleiterin zu kümmern,

gab er Gesche den Arm und führte sie die verschneite Steintreppe

zum Haustor hinauf. Auf der obersten Stufe angelangt, zog Gesche

ihren Arm aus dem des Christopher und machte einen niedlichen

Knicks

»Ich danke dem Herrn für alle Höflichkeit und Galanterie. Ich

bin ja nun vor einem Gasthaus, das ich nicht kenne. Ich möchte

den Herrn um keinen Preis weiter bemühen.«

Christopher riss sie verwundert an sich und küsste ihren schwellenden

Mund und ihre schimmernden Zähne.

»Kleine Närrin!«, flüsterte er »Wollten wir nicht schon lange den

Weg zum Glück zusammen gehen?« Er schlang den Arm um ihren

Nacken und öffnete die nur angelehnte Tür. Das Treppenhaus seitlich

der Gaststube war von sanftem Lichtschein beleuchtet.

»Führ mich in das Heiligtum, süßes Weib«, sagte der ungeduldige

Kavalier in feinster Lyrik. Er hielt sie bei der Hand, ohne sie zu

lassen. Sie schritten leise, stumm. Plötzlich stutzte Christopher. Irgendwo

im Dunkeln wurde vorsichtig eine Tür geöffnet. Er verhielt

den Schritt. Ihm war, als sähe er den Umriss eines weit vorgestreckten

weiblichen Kopfes. Keiner der beiden nächtlichen Besucher

wusste, dass es sich um Dolores, die Lebensgefährten von Marcel,

dem Wirt, handelte, was später noch schwerwiegende Folgen haben

sollte. Gleich darauf herrschte wieder tiefe Stille.

»Komm«, flüsterte er heiß. Gesche öffnete die Tür des vorderen

Zimmers im ersten Stock. Dort brannte bereits ein Kaminfeuer.

Christophers Freund Marcel hatte alles bestens vorbereitet. Auf

weißen mit blassrosa Seide überzogenen Tischchen standen ein

Blumenkorb und Girandolen, Armleuchter, mit blassblauen und

rosa Kerzen und eine kleine Öllampe warf ihren Schein ins Zimmer.

Im Hintergrund des Raumes leuchtete, vom roten Feuerschein

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der Kerzen und der Lampe schwach bestrahlt, ein schimmerndes

Spitzenlager. Ein wunderbares Doppelbett für Gäste der besonderen

Art hergerichtet. Zwischen dessen seidenen Kissen feierten die

beiden eine ‘Brautnacht’, wie sie Gesche noch nicht erlebt hatte.

Christopher gab alles, was er in seinem Leben in Punkto Liebe und

Erotik gelernt hatte. Er wollte und musste glänzen, denn er wollte

die junge Dame als seine Geliebte erhalten. Und als Christophers

heißer Mund sich begehrend auf Gesches zarte Lippen presste, als

die brennende Glut seiner Sinne und seines Herzens sie im Sturm

nahm, da wusste sie, nicht nur ihr Ehrgeiz, auch ihr Weibeshoffen

auf Vermögen und Geld schien sich zu erfüllen.

***

Nun, die erste Liebesnacht war es sicherlich nicht für Gesche. Sie

war bereits einige Jahre verheiratet. Aber es war für sie die einmalige

erste Liebesnacht mit ihrem Geliebten Christoph Gottfried –

genannt Christopher –, die ihr zum ersten Mal nicht nur ihre Libido

zu Bewusstsein brachte, sondern in ihr auch ganz unwillkürlich profanere

Gedanken erweckte.

Der Begriff der Libido (lateinisch libido: »Begehren, Begierde«, im

engeren Sinne: »Wollust, Trieb, Maßlosigkeit«) stammt aus der Psychoanalyse

und bezeichnet jene psychische Energie, die mit den

Trieben der Sexualität verknüpft ist. Als Synonym zu sexueller Lust

und Begehren war dieser Terminus zu damaliger Zeit natürlich

noch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen.

Carl Gustav Jung verstand in seiner Lehre der analytischen Psychologie

unter der Libido allgemein jede psychische Energie eines

Menschen. Anders als Freud sah Jung diese Kraft ähnlich wie das

fernöstliche Konzept des Chi oder Prana an, also als allgemeines

Streben-nach-Etwas. Viele verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen

haben gezeigt, dass Männer einen stärkeren sexuellen

Trieb als Frauen haben, der anhand von Indikatoren wie spontane

12

Gedanken über Sex, der Häufigkeit und Diversität sexueller Fantasien,

bevorzugter Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, bevorzugte

Zahl der Sexualpartner, Masturbation, Vorlieben für verschiedene

Sexualpraktiken, Bereitschaft, auf Sex zu verzichten und für Sex auf

andere Dinge zu verzichten, Initiieren und Ablehnung von Sex und

weiteren Indikatoren gemessen wurde. Laut einem Review von

2001 gibt es keine widersprechenden wissenschaftlichen Ergebnisse,

wenn auch neuere Untersuchungen, etwa von David Buss, darauf

hinweisen, dass diese Ergebnisse der Sexualwissenschaft fehlerhaft

und von gesellschaftlichen Normen beeinflusst gewesen sein könnten.

Die Libido des Mannes ist sehr stark abhängig von der Produktion

des männlichen Sexualhormones Testosteron. Bei Testosteronspiegeln

unter 15 nmol/l (einige Laboratorien geben den VitaminD-Spiegel (25-Cholecalciferol) in nmol/l an) ist ein Libidoverlust

wahrscheinlicher; bei Spiegeln unter 10 nmol/l nimmt die

Wahrscheinlichkeit für Depressionen und Schlafstörungen zu. Hitzewallungen

und erektile Dysfunktion werden meist erst bei unter 8

nmol/l beobachtet. Auch die weibliche Libido ist hormonabhängig.

Viele Frauen berichten von regelmäßigen Schwankungen der Libido

im Rahmen des Menstruationszyklus.(Libido: Wikipedia)

Auch Gesche war diesen Schwankungen offenbar des Öfteren erlegen.

Wie kam es nun, dass sich die verheiratete Margarethe Gesche Miltenberg,

geb. Timm, in den begüterten und strammen Mitvierziger

Christoph Gottfried, den sie liebevoll ‘Christopher’ nannte, verliebte?

Unbedacht der Kümmernisse und Verpflichtungen, die eine

mehrköpfiger Familie mit sich brachte, stahl sich Gesche nahezu

jeden Sonntag ein Stündchen von zuhause weg, um sich an der

Uferpromenade entlang der Weser zu ergehen. Dort traf sie nicht

nur freundliche und elegant gekleidete Bürger der Hansestadt, sondern

fand auch manches interessante Gespräch mit Bekannten oder

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Unbekannten. Das brachte etwas Abwechslung in das eintönige und

inzwischen auch von Sorgen geplagte Leben einer mittelständischen

Hausfrau. Sie hatte stets ihre beste Haube aufgesetzt, die mit einem

schmalen Schildchen Kopf und Gesicht schützte. Dazu trug sie

einen bodenlangen Rock und entsprechend der Jahreszeit, einen

Mantel mit doppeltem und dreifachem Revers, einen sogenannten

neuartigen Riding-Coat, der in Frankreich auch Rédingote genannt

wurde. Zierliche Schuhe mit einem kleinen Absatz vervollständigten

das Bild einer eleganten Dame der mittleren Oberklasse.

Generell sah die Mode um 1800 etwa so aus:

Da gab es beispielsweise schon Ende des 18. Jahrhunderts Hosen

für die Dame. Dieses Kleidungsstück wurde den Frauen in kriegerischen

Zeiten leidlich gestattet, aber gegen Ende des Jahres 1793

besann man sich, ein Verbot der sogenannten Frauenclubs, Einschüchterungen

und Verhaftungen führten schließlich dazu, dass

dieses männliche Kleidungsattribut aus den Schränken der Frauen –

und der Erinnerung – wieder verschwand

Damen, die sich nicht selten dem Reitsport hingaben, sahen dann

so aus: Den Kopf ziert eine Art Helm von himmelblauem Atlas,

reich mit Gold gestickt; vorn sind in einer Art von Schild zwei lange

weiße und eine schwarze Schwungfedern befestigt, die sich über den

Helm nachlässig zurück schlagen. Der Helm selbst sitzt ganz leicht

auf einer Frisur von kleinen Locken; über der Stirne teilt sich das

Haar und fällt seitwärts bis an die Augenbrauen zurück. Rückwärts

ist das Haar ganz leicht zusammengeflochten und wird nach Art

eines Chignons (Haarknoten) unter dem Helme befestigt. Der Hals

ist unbedeckt; doch trägt man auch ein kleines stehendes Gekröse

herabwärts bis an die Brust, das von Schleier oder Flor, einoder

buntfärbig ist. Manche Damen tragen ein Reitkollet mit sehr kurzer

Taille von himmlblauem Atlas, Taffent (Leder) oder feinem Tuche

mit rosafarbenen Rabatten, hochstehendem Kragen und Aufschlägen

mit Goldstickerei. Auf der rechten Schulter ein Erolett (Anste

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cker) von Gold, und auf der linken einen Dragon, der über die

Brust geschlagen und in der linken Seite befestigt wird. Unter dem

Kollet ein Gillet von bunt gestreiftem Wallis sehr breit

übereinander geschlagen mit einem Untergilet; um den Leib eine

schwarzatlassene Binde.

Sie trägt ferner einen knappen Pantalon (eine Art Hose) von palliefarbenem

oder auch gestreiftem Zeug; einen Reitrock von

weißem leichten Zeug, der sich auseinander schlägt. Halbstiefel mit

kleinen Sporen, die nur bis unter die Wade gehen, mit braunem,

sehr schmalem ausgeschweiften Überschlage. Zwei Uhren mit

Stahlketten und in der rechten Hand eine Reitpeitsche. Das Kollet

wird oft bei militärischer Kleidung verwendet, es handelt sich um

eine kurz geschnittene Jacke, auch Spencer Wallis ist ein Wollzeug

aus englischen Manufakturen. Es wurde auch in Österreich und im

Raum Chemnitz produziert, dort aber aus Baumwolle.

Die Revolutionssowie die Empiremode sind die Nachfolgemoden

des Rokoko und umfassen noch eine dritte Stilrichtung, das Directoire.

Diese Kleidungsepochen waren wie die Politik dieser Zeit

außergewöhnlich kurz und schnelllebig, gingen nicht fließend ineinander

über und endeten teilweise abrupt von einem Jahr zum anderen.

Die Revolutionsmode dauerte von 1789 bis 1795, das Directoire

umfasste die Zeitspanne von 1796 bis 1804 und wurde dann

von der Empiremode abgelöst, die 1820 zu Ende ging. Als in

Frankreich die Französische Revolution 1789 ausbrach, brachte

dies einen abrupten Modewandel mit sich – spätestens ab 1790 war

alles verpönt, was an die Rokoko-Zeit und damit an das Königtum,

das Ancien Régime, erinnerte. Dies ging 1793 so weit, dass Männer

wie Frauen mit gepuderter Perücke riskieren mussten, als Royalisten

angeklagt und enthauptet zu werden. Die Damenmode zeigte

nur geringe revolutionäre Auswüchse und übernahm hauptsächlich

die Linien der englischen Mode. Eine größere Haube wurde wieder

modern, die mit einem Schild Kopf und Gesicht schützte. Dazu

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trug man bodenlange Röcke und einen Mantel mit doppeltem oder

dreifachem Revers, den neuartigen »Riding-Coat«, der in Frankreich

aber »Rédingote« genannt wurde. Politisch engagierte Frauen (nicht

zuletzt für eventuelle Frauenrechte in der neuen Staatsform) glichen

die Kleidung mit Westen und Jacken, an denen ebenfalls Revers

und Kokarden prangten, der Garderobe ihrer Männer an.

Bei den Herren trug man die Kniebundhose, die die Mode schon

im frühen Mittelalter prägte, sie wurde durch lange Beinkleider

ersetzt, weshalb man die Träger auch »Sansculottes« (»ohne Kniebundhose

«) nannte. Dies stieß auf allgemeine Empörung sowohl bei

der Oberschicht, die diese langen Hosen als »Beleidigung des guten

Geschmacks« ansahen, wie auch bei vielen Revolutionären selbst.

Doch schon sehr bald verstummten die kritischen Stimmen und die

bis heute andauernde Ära der langen Herrenhosen begann. Dazu

trug man meist eine Weste und eine rote Kappe, die ‘Jakobinermütze’,

die an die Sklaven auf den Galeeren erinnerte und als ein

Symbol der Verbundenheit galt.

Die Mode der Frau änderte sich ab 1799 grundlegend, da sie die

vorigen Muster ignorierte und sich nun auf die sanften Kleider der

Antike stützte. Man versuchte, sich diese Zeit als die ideale und

reinste Seinsform vorzustellen, mit jungen Mädchen, die in leichten

Gewändern an plätschernden Flüsschen saßen und mit Fauna und

Flora in Einklang lebten. Gemäß dieser Vorstellung wurde die Damenmode

zunächst von allen Zwängen befreit: kein Korsett, kein

Reifrock, keine Perücke oder Haube. Stattdessen trug man gemäß

der Mode à la Grecque einfache, ärmellose und teils durchsichtige

Gewänder aus weißem Musselin, dazu mit Bändern um die Waden

geschnürte Schuhe und locker hochgestecktes Haar.

(Was war wann: Mode i. 18.Jahrhundert)

Die Kinder wurden im häuslichen Kreis der Familie großgezogen.

Von den Eltern wurden ihnen die Werte der Gesellschaft vermittelt

sowie der Sinn für ein beschauliches Familienleben. Dass Jungen

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und Mädchen dabei verschiedene Tätigkeiten verrichten mussten,

war selbstverständlich, wurden sie doch auf verschiedene Rollen

vorbereitet. Mit sieben Jahren kamen sie meist in die öffentliche

Schule. Dort wurden sie, Jungen und Mädchen getrennt, zusammen

mit den Kindern der unteren Stände unterrichtet. Reichere Bürger

allerdings konnten ihre Töchter auf ein Mädchenpensionat schicken.

Die Vorzüge der öffentlichen Schule beschreibt Johann Struve:

‘Die Kinder sind nur einige Stunden des Tages, und zwar die

Zeit, in welcher eine Mutter, die zugleich Hausfrau ist, sich am wenigsten

um sie kümmern kann, aus dem elterlichen Haus entfernt.’

Danach konnte das Mädchen von der Mutter mit dem häuslichen

Leben bekannt und vertraut gemacht werden, wodurch ‘dann von

selbst seine ganz Art zu empfinden, zu denken und zu handeln gehörig

eingeübt und bestimmt sowie es für das menschliche Leben

und die weibliche Bestimmung nöthig und gut ist’.

Man erkennt ganz deutlich, dass auch das bürgerliche Mädchen

ganz im Sinne seiner ‘weiblichen Bestimmung’ erzogen wurde. Im

Gegensatz zum Adel wurde es jedoch noch mehr in die Geborgenheit

der Familie eingegliedert. Die bürgerliche Frau lebte, wie die

Gesellschaft es verlangte, als Mutter und Gattin, sie überwachte den

Haushalt, arbeitete aber nicht selbst. Selten hatte sie Gelegenheit,

aus den ihr auferlegten Zwängen auszubrechen. Mutige Frauen, die

ihre eigenen Wege gehen wollten, konnten jedoch ebenfalls nur die

Laufbahn einer Erzieherin oder Gouvernante einschlagen. Es gab

berühmte Frauen, die ihre Häuser zu literarischen Treffpunkten

machten, wie z.B. Rahel Levin und Henriette Herz. Solch eine

Emanzipation gelang aber fast nur in Großstädten wie Berlin.

Das Frauenleben an sich unterschied sich somit nicht sehr von dem

adeliger Damen. Zwar ist in der bürgerlichen Intimfamilie die

menschliche Beziehung zwischen den Gatten verinnerlicht worden;

gegenseitige Achtung, Liebe, menschliche Qualitäten sind konstitu

17

tiv für die nun propagierte Liebesehe, aber die Ehefrau ist immer

noch ein Stück Besitz geblieben, den der seinerseits in der Privatsphäre

emanzipierte Mann und in der Gesellschaft durch Privatbesitz

abgesicherte Bürger wählen kann. Die Frauen selbst werden die

althergebrachten Denknormen und Verhaltensweisen wohl ohne

weiter darüber nachzudenken übernommen haben.

Von früh an wurden Töchter von armen Bauern oder Dienstboten

in einem Haushalt als Dienstmägde beschäftigt. In der öffentlichen

Schule erhielten sie für kurze Zeit Unterricht in Lesen und

Schreiben. Als Dienstmädchen waren sie oft Teil der Familie, der

Herrschaft enger verbunden als der eigenen Familie. Sie arbeiteten

sehr lange, manchmal ein ganzes Leben lang in ein und demselben

Haushalt, woraus man schließen kann, dass die meisten Hausangestellten

sich in ihrer Lage wohl fühlten. Doch nicht zu übersehen ist,

was für ein ungleiches Leben sie gegenüber ihren Arbeitgebern

führten. Ihre Lebensbedingungen waren viel schlechter, so mussten

sie z.B. in kaum oder gar unbeheizten Dachkammern schlafen, sich

das Zimmer mit mehreren anderen Hausangestellten teilen. Wenn

ein unverheiratetes Dienstmädchen schwanger wurde, konnte sie

wegen Geldmangel das Kind nicht in Pflege geben, so wie es wohlhabenderen

Frauen möglich war, und wurde dadurch oft zum

Kindsmord verleitet, auf welchen die Todesstrafe stand.

Beta war so ein Dienstmädchen im Hause Miltenberg. Zwischen ihr

und Gesche entwickelte sich jedoch, wie bereits berichtet, eine,

wenn auch oberflächliche, Freundschaft.

An dieser Stelle muss man einen Blick auf die Hansestadt Bremen

zu dieser Zeit werfen. Die Stadt beauftragte 1802 den Landschaftsgärtner

Isaak Altmann, die frühere Stadtbefestigung in die heutigen

Wallanlagen umzugestalten. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss

erlangte Bremen 1803 die im Zweiten Stader Vergleich abgetretenen

Gebiete Vegesack, Werderland, Niederblockland und

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die Vahr zurück und gewann Grolland, Schwachhausen und Hastedt

neu dazu. 1810 wurde von Martin Heinrich Wilkens die Bremer

Silberwaren Fabrik (BSF) gegründet. Am Ende des 19. Jahrhunderts

wurde die Fertigung in das zu dieser Zeit noch preußische

Hemelingen verlegt.

1811 wurde Bremen erneut zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen.

Napoleon ließ Bremen besetzen und integrierte

es als Hauptstadt des Départements des Bouches du Weser in den

französischen Staat und setzte Philipp Karl Graf von Arberg 1811

als Präfekt ein. Nach der Niederlage in den Befreiungskriegen verließen

die französischen Truppen 1814 Bremen.

Die Stadt Bremen entsandte von 1813 und 1814 bis 1815 ihren

Bürgermeister Johann Smidt als diplomatischen Vertreter Bremens

zum Hauptquartier der Alliierten und zum Wiener Kongress. Er

erreichte, dass Bremen als souveräner Staat in den Deutschen Bund

mit seinen 41 Mitgliedstaaten als Freie Stadt aufgenommen wurde,

so wie Frankfurt, Hamburg und Lübeck. 1804 eröffnete Bremen

sein eigenes Postamt, das Bremer Stadtpostamt sowie Postämter in

den Exklaven Bremerhaven (1846) und in Vegesack (1847). 1855

wurden die ersten Briefmarken in Bremen eingeführt. Bremer Lehrerseminare

gab es in Bremen seit 1810 bis 1926. Sie dienten der

Ausbildung von Lehrern der Elementarschulen bzw. der Volksschulen.

Bürgermeister Nonnen gründete mit anderen Kaufleuten, Bürgermeistern

und Senatoren 1825 die Sparkasse Bremen.

Auf der Werft von Johann Lange wurde 1816/17 das erste in

Deutschland von Deutschen gebaute Dampfschiff hergestellt. Der

Raddampfer ‘Die Weser’ verkehrte als Passagierund Postschiff

zwischen Bremen, Vegesack, Elsfleth und Brake, später auch Geestemünde

bis 1833. Die Wirtschaftlichkeit des Schiffes wurde allerdings

durch die fortschreitende Versandung der Weser beeinträchtigt.

Um sich den Zugang zum Seehandel zu erhalten, erwarb Bremen

1827 vom Königreich Hannover ein Gelände an der Wesermündung

von 89,5 Hektar Größe und gründete Bremerhaven. Für

19

die Gründung war vor allem der bremische Bürgermeister Johann

Smidt verantwortlich. Der neue Hafen wurde nach Plänen des holländischen

Wasserbaumeisters Jacobus Johannes van Ronzelen

gebaut und 1830 fertiggestellt. Im neuen Hafen florierte neben dem

Warenumschlag auch die Personenbeförderung.

Als Gesche wiederum eines schönen Sonntags an der Wesermeile,

so nannten die Bremer die Promenade entlang des Flusses, dahinschlenderte,

bemerkte sie, dass bereits eine ganze Zeit lang eine

elegante Kalesche, ein sogenannter Einspänner, langsam neben ihr

herfuhr. Sie wandte sich der Kutsche zu, um festzustellen, was es

damit auf sich hatte. In der Kalesche saß ein Herr auf dem Kutschbock,

der die Zügel seines Trakehner-Pferdes stramm in der behandschuhten

linken Hand hielt. Mit der rechten griff er an seinen

Zylinder, lüftete diesen leicht und sagte mit einer kleinen Verbeugung

in Richtung Gesche: »Guten Tag, gnädiges Fräulein, wohin des

Weges?«

Gesche fand diesen plumpen Annäherungsversuch überhaupt

nicht lustig. Sie blickte wieder geradeaus und setzte ohne ein Wort

zu sagen ihren Weg fort.

»Haben Sie mich nicht verstanden, meine Dame?«, ließ der

kutschfahrende Kavalier nicht locker.

»Wohin werde ich schon gehen?«, sagte Gesche schnippisch.

»Immer geradeaus der Nase entlang!«

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich wollte Sie nicht beleidigen!«

»Erst einmal bin ich kein Fräulein mehr und zweitens kann man

mich nicht mit einer solchen Anmache beleidigen.«

»Trotzdem«, setzte der Herr in der Kalesche hartnäckig seine

Konversation fort, »bitte ich Sie um Gnade, gnädige Frau! Wie

kann ich wissen, dass ein so junges und zartes Geschöpf wie Sie

kein Fräulein mehr ist.«

»Nun, jetzt wissen Sie es«, sagte Gesche etwas ungehalten.

20

Genau in diesem Moment geriet sie in eine Unebenheit des Weges,

sodass sie mit ihrem rechten Stöckelschuh umknickte und

einen stechenden Schmerz im Fußgelenk verspürte. Mit einem

kleinen Aufschrei musste sie unwillkürlich hinken und sich mit der

linken Hand an der Brüstung der Pferdekarosse festhalten. Sofort

brachte der aufdringliche Kutscher sein Gefährt zum Stehen, kurbelte

die Bremse fest, sprang vom Kutschbock, griff nach dem Arm

der hinkenden Fußgängerin und fragte besorgt: »Haben Sie sich

sehr verletzt?«

»Nein, nein, es geht schon. Es hat nur momentan etwas weh getan

«, sagte Gesche und ersuchte ihren Weg fortzusetzen. Das jedoch

gelang ihr nicht, denn der Schmerz hatte sich über das ganze

Bein ausgebreitet und sie konnte sich tatsächlich nur hinkend fortbewegen.

Der bekutschte Kavalier ergriff die einmalige Chance beim

Schopf. »Ich sehe, Sie haben Schmerzen beim Gehen. Darf ich Sie

deshalb einladen, in meiner Kalesche Platz zu nehmen?«

Gesche lüpfte etwas pikiert ihren langen Rock hob ihr Füßchen und

stieg in den Kutschwagen. Als der Wagenführer auf seinem Kutschbock

Platz genommen hatte, lüftete er wiederum mit einer kleinen

Verbeugung hin zu Gesche seine Kopfbedeckung und sagte höflich:

»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Christoph Gottfried.«

21

»Und mein Name«, erwiderte Gesche, »ist Gesche Miltenberg.«

»Mein Vergnügen«, sagte Christoph Gottfried höflich. Er löste seine

Wagenbremse, schnalzte mit der Zunge, sodass sich die Kutsche

gleich in Bewegung setzte. Und er sagte zu Gesche gewandt: »Sind

Sie etwa verwandt mit dem Sattlermeister Miltenberg in der Pelzerstraße?«

»Richtig«, antwortete Gesche, »kennen Sie etwa meinen Mann?«

»Selbstverständlich«, sagte Gottfried und trieb seinen hübschen

Trakehner zu einer schnelleren Gangart an. »Ich habe hin und wieder

bei Ihrem Mann meine Geschirre reparieren lassen.«

Und nach einer kleinen Pause: »Können Sie mir bitte einen Herzenswunsch

erfüllen?«, fragte Gottfried nach hinten zu seinem

charmanten Fahrgast.

»Und der wäre?«

»Bevor ich Sie nach Hause fahre, würde ich Sie gerne auf ein

Tässchen Kaffee einladen. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden

sind.«

»Das erscheint mir alles etwas zu plötzlich …«, gab Gesche von

sich. »Wohin soll denn die Reise gehen?«

Gottfried nahm diese Antwort als Einverständnis und sagte: »Ich

kenne einen kleinen Gasthof, etwas außerhalb von Bremen, der

nennt sich Grüner Hering. Dort verkehre ich des Öfteren und ich

würde Ihnen gerne dieses Lokal einmal zeigen.«

Nach etwa einer Viertelstunde hielt das Gespann vor einem kleinen

sauber heraus geputzen Gasthaus, das über der Eingangstüre

ein großes Holzschild zeigte mit der Aufschrift ‘Zum grünen Hering’.

Ein Bediensteter mit blauer Schürze und einer Schirmmütze

trat aus der Tür und grüßte freundlich die Ankommenden, so als

wären diese alte Bekannte. Die Gäste stiegen aus dem Wagen und

der Hausknecht führte das Pferd mit dem Wägelchen in den Hof

des Anwesens nach hinten. Die Türe des Gasthauses wurde von

innen geöffnet und auf der Schwelle stehend streckte ein etwas

grobschlächtiger, breitschultriger Mann mit gegelten zurückge

22

kämmten Haaren und einem runden rotbackigen Gesicht Gesche

die Hand entgegen.

»Ich bin Marcel … und das da hinten«, er deutete mit dem Daumen

der linken Hand über seine Schulter, »das ist meine Lebensgefährtin

und Dirigentin des Betriebes, Dolores. Sie dirigiert nämlich

meinen Laden.«

»Herzlich willkommen, gnädiges Fräulein.«

Gottfried schüttelte den Kopf und meinte: »Lass ruhig die Förmlichkeiten.

Das hier ist Frau Miltenberg eine wunderbare, angesehene

Bürgerin unserer Stadt.«

»Verzeihung«, sagte Marcel, »konnte ich nicht wissen.«

Seine Stimme war rau und heiser. Offenbar von übermäßigem Alkoholgenuss

oder von den dicken Zigarren, die er ständig rauchte,

herrührend. Marcel wies den Ankommenden ein kleines Tischchen

rechts hinten in der Ecke des Gastraumes an, zum Platznehmen.

Dolores, die Dirigentin des Geschäftes, wie sie Marcel bezeichnet

hatte, stand hinter der Theke und ließ aus der halb geöffneten Bluse

ihren etwas zu üppig geratenen Busen blitzen. Sie beachtete die

Ankommenden nicht und sagte in verächtlichem Ton in Richtung

Marcel: »Frag die Leute, was sie trinken wollen.«

»Sei doch nicht so unwirsch«, sagte Marcel,»und lass sie erst einmal

Platz nehmen.«

Gottfried rückte Gesche einen Stuhl zurecht. Auch er setzte sich

und fragte zu Gesche gewandt: »Was darf ich Ihnen bestellen?«

»Ein Tässchen Kaffee und ein kleines Stück Kuchen wäre mir

recht«, sagte Gesche und putzte sich etwas verlegen das Näschen.

»Kommt sofort«, sagte Marcel und ging zur Küche. Gottfried setzte

sich wohlweislich mit dem Rücken zur Theke, hinter der Dolores

thronte. Er mied jeden Blickkontakt mit der Dame, denn bis vor

kurzem hatte sich zwischen den beiden, also zwischen Dolores und

Christoph, eine kurze erotische Affäre entwickelt. Wohlweislich mit

dem Wissen von Marcel, der in dieser Hinsicht ein toleranter

Mensch und Ehemann zu sein vorgab. Was sollte es für ihn schon

23

bedeuten, wenn seine Dolores ihr spanisches Temperament nicht

nur ihm schenkte, sondern auch hin und wieder den Gästen, die ihr

sympathisch und entsprechend gut begütert erschienen.

Inzwischen betrachtete Gesche ihr Gegenüber etwas genauer. Dieser

feine Herr Gottfried war ihr eigentlich nicht unsympathisch. Er

hatte verbindliche Umgangsformen, war höflich und zuvorkommend

und scheinbar recht großzügig in seiner Art, was Gesche ganz

besonders gefiel. Das einzig Negative, was sie an ihm fand, war sein

Alter. Sie hätte sich ihn etwas jünger gewünscht. Aber sein pastorales

Gehabe wurde von seiner liebenswürdigen Art überdeckt. Während

Marcel den Kaffee servierte, fragte dieser ganz beiläufig zu

Gottfried gewandt: »Soll ich oben herrichten?«

Etwas verlegen und ärgerlich winkte Gottfried ab und sagte, »heute

nicht«.

»Was sollte er herrichten?«, fragte Gesche neugierig, wie sie nun

einmal war.

»Ach, nichts«, sagte Gottfried. »Er richtet mir ab und zu in der ersten

Etage einen Sack Hafer für meinen Braunen her«, erwiderte der

Kavalier und konnte seine Verlegenheit schlecht nur verbergen. Die

Tatsache, dass Marcel eine solche Frage stellte, rührte daher, dass

immer, wenn Gottfried bei ihm mit einer Dame auftauchte – und

das geschah zur rechten Zeit – Marcel im ersten Stock seines Gasthauses

ein hübsch eingerichtetes Fremdenzimmer vorbereiten

musste für ein anschließendes Schäferstündchen seines Gastes.

Peinlich, peinlich, dachte Gottfried bei sich. Hoffentlich hat die

Kleine nicht bemerkt, was sich hinter der Frage verbirgt.

Dolores schickte inzwischen einen giftigen Blick in Richtung der

beiden Neuankömmlinge, beherrschte sich aber, nachdem sie einen

Wink ihres Marcels aufgefangen hatte, und gab weiter zu einer Unruhe

keinen Anlass.

»Sind Sie oft an der Weserpromenade unterwegs?«, fragte der Kavalier,

der inzwischen seine Selbstsicherheit wiedererlangt hatte,

seine Begleiterin.

24

»Ach, wissen Sie«, sagte Gesche, »ich habe einen Haushalt zu führen.

Ich habe zwar eine Haushälterin, die mich entlastet, aber trotzdem

bleibt mir wenig Zeit für meine eigenen Vergnügungen.« Und

sie lächelte verschmitzt. War das eine Anspielung auf weitere Zusammenkünfte

und eventuell auch auf mehr?, dachte Gottfried.

»Ich bringe meistens nur am Sonntag ein Stündchen für mich heraus.

Ich finde, dass die Weserpromenade, mitten in unserer Stadt

und nur wenige Schritte vom Marktplatz und von meinem Wohnhaus

in der Pelzerstraße entfernt, geradezu ideal ist zum Flanieren.

Man trifft so viele Leute, wie zum Beispiel Sie heute Nachmittag.

Alle haben sich aufgeputzt. Ich konnte auch schon einmal in einem

Boot auf der Weser fahren. Oft genügt es mir einfach, die Schiffe

zu betrachten. Auch hatte ich schon einmal das Vergnügen, eine

geruhsame Fahrt Richtung Wesermündung und weiter über

Wümme und Lesung in das nahe Umland zu schippern. Die zahlreichen

Terrassen und Biergärten bieten doch viele Möglichkeiten

zum Verweilen und Ausspannen. Hier kann man wirklich Kaffee

und Kuchen genießen Das Leben an der Schlachte ist vielfältig und

das gefällt mir. Es finden sich auch oft Musikanten ein, die dort am

Wegesrand ihre Weisen zum Besten geben. Ach ja, da fällt mir ein:

Woher kommt eigentlich der Name Schlachte? Können Sie mir das

sagen?«

»Soweit ich weiß«, antwortete Gottfried, »rührt der Name Schlachte

von den Pfählen her, die zur Befestigung des Ufers an der Weser

eingeschlagen wurden. Der Name kommt von slagte, also vom Einschlagen

der Uferpfähle, die mit Balken und Faschinenflechtwerk

gehalten wurden und für die Uferbefestigung sorgten. Die Bezeichnung

stammt aus dem Niederdeutschen und ist in anderer Form –

wie beispielsweise im ursprünglicheren Schlagde – für ähnliche

Uferbereiche im gesamten norddeutschen Raum verbreitet. 1250

wurde dieser Bereich erstmals als slait urkundlich erwähnt, später

auch als slagte und als slacht bezeichnet. An der Schlachte, glaube

ich, wird sich in nächster Zeit noch sehr viel tun. Nachdem schon

25

seit mehr als zehn Jahren die Festungswälle und Bastionen hier in

Bremen abgetragen wurden und neue Wallanlagen entstanden,

können wir unsere Stadt seit 1806 nach der Auflösung des Deutschen

Kaiserreiches als Freie Hansestadt bezeichnen. Das gibt uns

allen Auftrieb und beflügelt den Handel.«

»Ich bin erstaunt darüber, was Sie alles wissen. Was machen Sie

eigentlich beruflich? Wenn ich fragen darf!«, sagte die kokette

Tischnachbarin und nippte an ihrem Tässchen Kaffee.

»Nun, ich betreibe Handel. Mal dies, mal das. Ich habe mich da

nicht einseitig festgelegt.«

»Ihr Handel muss aber gut florieren, wenn man nach Ihrer Kutsche

geht.«

»Eigentlich ist es eine Kalesche, wie man heute sagt. Als ich mir

vor zwei Jahren einen neuen Wagen anschaffen wollte, habe ich erst

einmal mit einer Char-à-Côté (sprich Schar-a-Kote) befasst. Das

heißt wörtlich eigentlich ‘Wagen zur Seite’ und ist eine Kutsche, in

der die Passagiere seitwärts sitzen, um beim Spazierenfahren die

Landschaft besser betrachten bzw. sich selber besser zur Schau stellen

können. Aber so viele Fahrgäste habe ich auch nicht zu kutschieren.

Mit der Begeisterung zur Landschaftsgärtnerei und Parkgestaltung

war das ein Modewagen und etwa ab 1800, also vor gut

zehn Jahren, gab es schon einige Fahrzeuge dieser Art. Dann hätte

mir auch noch ein Gig, das ist ein zweirädriger offener Wagen mit

einer Gabeldeichsel für ein Pferd, zum Selbstfahren Spaß gemacht.«

»Letzten Sonntag habe ich eine wunderschöne Herrenkutsche an

der Weser gesehen«, warf Gesche ein.

»Das war sicher ein Phaeton. Das ist meistens eine kleine zweiachsige

Kutsche, die nicht von einem Bediensteten, sondern vom Besitzer

selbst oder seiner Dame gefahren wird. Haben Sie bemerkt,

dass der Bedienstete hinten auf der hinteren Bank saß? – Den

Phaeton gibt es natürlich in zahlreichen Varianten. Die leichteste

und sportlichste ist zum Beispiel der Spider Phaeton und diese

Wagen sind zurzeit sehr gefragt. Übrigens, der Name Phaeton,

26

wenn ich das noch sagen darf, entstammt der griechischen Mythologie.

Phaeton war der Sohn des Sonnengottes Helios, der dessen

Wagen gegen den Rat des Vaters lenkte. Dabei geriet Phaeton der

Wagen außer Kontrolle und der Wagen verbrannte die Erde. Phaeton

selbst kam bei dieser Fahrt um und fiel in den Strom Eridanos.

Schon aus diesem Grunde, mit diesen unglücklichen Vorzeichen,

wollte ich mir keinen Phaeton kaufen«, sagte Gottfried mit einem

Schmunzeln auf den Lippen.

»Meine Güte. Sie kennen sich ja wirklich gut aus.«

»Natürlich. Ich fahre schon jahrelang eine Kalesche und bin deshalb

auch mit Ihrem Gatten, dem Sattlermeister Miltenberg, schon

vor ein paar Jahren bekannt geworden. Wie geht es ihm eigentlich

zur Zeit? Ich habe gehört, er hat eine angeschlagene Gesundheit?«

»Geht schon«, sagte Gesche ohne jede Gefühlsregung.

»Ich bin mit meiner zweirädrigen Kalesche mehr als zufrieden.«

Das Thema war sein Thema und ließ ihn nicht so schnell los. »Die

Kalesche gibt es auch vierrädrig«, fuhr er mit Begeisterung fort, »als

Einoder Zweispänner. Sie bietet Platz für bis zu vier Personen und

hat, wie Sie sicher bemerkt haben, ein Faltverdeck. Der Kutscher

sitzt auch hier wie bei der Barouche, zu der man, wie ich gehört

habe, die Kalesche weiterentwickeln will, hoch oben vor der Box

der Passagiere.

Anmerkung: Die Barouche ist ein luxuriöser, vierrädriger, offener,

zweispänniger Pferdewagen. Es wird von einem Kutscher auf einem

hoch gesetzten Bock gefahren. Im Zuge einer Weiterentwicklung

wurde die Barouche zierlicher; spätere Versionen haben einen

bootsförmigen Wagenkörper, der zur besseren Federung an Stahlfedern

und Lederriemen aufgehängt ist. Er enthält zwei Sitzbänke

für insgesamt vier Passagiere, die sich gegenübersitzen. Für die hintere

Bank gibt es ein Klappverdeck. Nicht alle Barouches haben

Türen zum Fond.

27

Die Barouche ist, wie die kleinere Barutsche, eine Weiterentwicklung

der Kalesche. Der Fahrzeugtyp entstand gegen Ende des 18.

Jahrhunderts in Frankreich und war auch in Großbritannien und

Deutschland verbreitet.

Ihren Höhepunkt als Statussymbol erlebte die Barouche in den

1830er bis 1840er Jahren und kam danach allmählich aus der Mode.

Barouches werden heute noch von Königsund Adelshäusern

für Paraden verwendet; sie waren zudem stets eine naheliegende

Wahl für Hochzeitsfahrten und werden in manchen Städten touristisch

genutzt.

Der Begriff wurde selten auch im frühen Automobilbau verwendet.

Hier bezeichnete er eine Ausführung des Landaulet de Ville

mit offenem Chauffeurabteil und geschlossenem Fond mit zwei

gegenüberliegenden Sitzbänken; über die hintere ließ sich das Dach

mittels Klappverdeck öffnen. Diese Bauform hielt sich deutlich

länger als die Bezeichnung Barouche.

»Das Schöne ist,«, so der Kaleschenbesitzer weiter, »Kaleschen gibt

es in mannigfaltigen Ausführungen. Wussten Sie, dass bereits Casanova

in seinem Memoiren ‘Histoire de ma vie’ 1742 eine zweirädrige

Kalesche und 1758 dann eine vierrädrige Ausführung erwähnt

hat? Also, wie Sie sehen, ein sehr traditionelles Gefährt, das an Attraktion

bis heute nicht verloren hat.«

Nach einer guten halben Stunde brachen die beiden wieder auf

und Gesche ließ sich eine Häuserzeile vor ihrem Wohnhaus abladen.

»Darf ich Sie denn wiedersehen?«, fragte der Kavalier am Kutschbock.

Gesche lächelte kokett und sagte: »Überlassen wir es dem

Zufall. Ich bedanke mich jedenfalls für den angenehmen Nachmittag.«

Es vergingen einige Tage. Eigentlich hatte Gesche aus bestimmter

Absicht geplant am nächsten Sonntag wiederum an die Weserpro

28

menade zu gehen mit dem heimlichen Wunsch, vielleicht den großzügigen

Herrn in seiner Kalesche wiederzutreffen. Als sie sich aber

gerade zum Ausgang putzen wollte, wurde die Glocke an der Haustüre

gezogen und ihre Mutter stand vor der Türe.

»Was führt dich zu mir?«, sagte Gesche etwas verwundert »Ein seltener

Besuch!«

»Ach, weißt du«, antwortete Gesches Mutter, »ich habe hier in der

Nähe eine alte Schulfreundin besucht und dachte mir, ich bringe dir

etwas vorbei, was dir im Haushalt nützen könnte.«

»Und das wäre?«, fragte die Tochter, etwas ärgerlich on der Störung.

»Du hast mir vor geraumer Zeit einmal erzählt, dass ihr eine Rattenplage

im Haus habt und so habe ich dir«, sie reichte ihr eine

braune Papiertüte, »eine Portion Arsenik mitgebracht, damit du den

Viechern Herr wirst.«

»Das ist nett von dir. Aber die Rattenplage ist nicht mehr so

schlimm, wie sie schon einmal war.«

Trotzdem nahm sie der Mutter die Tüte aus der Hand und verstaute

sie im Küchenschrank.

»Sei vorsichtig«, sagte die Mutter, »das Zeug ist hochgiftig. Du

darfst es nicht mit irgendwelchen Nahrungsmitteln in Berührung

bringen.«

»Ich weiß – ich weiß!«, sagte Gesche und schloss mit lautem Geräusch

die Kastentüre über dem Küchenbuffet.

Zwei Tage darauf – Gesche wollte gerade mit einer Einkaufstasche

das Haus verlassen – rannte ihre Nachbarin, Berta Köhler, auf sie

zu, nahm sie am Arm und sagte mit heiserer Stimme: »Schauen Sie

mal, Frau Miltenberg, hier wurde gerade ein Hund angefahren, den

es gottserbärmlich erwischt hat.«

Tatsächlich lag vor dem Nebenhaus am Straßenrand ein großer

Hund, der gar fürchterlich jammerte und winselte, denn es war ihm

offenbar von einem Kutschwagen das Rückgrad gebrochen worden.

29

Er stützte sich mühselig mit den Vorderläufen auf. Die Hinterbeine

versagten jedoch schlaff ihren Dienst.

»So eine Quälerei kann ich nicht mit ansehen«, jammerte die

Nachbarin und hielt sich die Hand vor den Mund. »Was machen

wir denn bloß?«

Gesche überlegte kurz und sagte: »Warten Sie, Frau Köhler, ich

komme gleich wieder.«

Sie rannte in ihre Küche, holte aus der Speise – das war ein kleiner

kühler Nebenraum zur Küche, wo sie oft verderbliche Ware

lagern konnte – mit einem großen Esslöffel aus dem Topf mit der

Leberwurst eine gute Portion, streute vom Arsenik-Pulver, das ihr

die Mutter gebracht hatte, reichlich auf die Leberwurst und rannte

zurück auf die Straße.

»Was machen Sie da?«, fragte die Nachbarin.

»Lassen Sie mich nur machen!«

»Seien Sie vorsichtig. Nicht, dass der Hund …« – es handelte sich

offensichtlich um eine Mischung aus Wolfshund und Deutscher

Dogge – »… Sie auch noch beißt.«

»Nein nein«, sagte Gesche, »ich kann mit Hunden umgehen.«

Sie kniete sich vor das Tier und hielt ihm den Löffel mit der Leberwurst

vor die Schnauze. Der Hund vergaß momentan seinen

Schmerz und sein Elend und schleckte begierig den Löffel mit der

Leberwurst auf. Kaum hatte sich Gesche wieder erhoben, sie wollte

der Nachbarin eine Erklärung abgeben, jaulte das Tier kurz auf,

warf sich zur Seite und verschied mit ein paar Zuckungen auf der

Stelle.

»Sehen Sie«, sagte Gesche, »ich habe wahrscheinlich etwas zu viel

vom Rattengift unter die Leberwurst gemischt. Ich hätte nicht gedacht,

dass das so schnell wirkt. Jedenfalls, das Tier ist von seinen

Schmerzen erlöst.«

Mit den Worten »Sie sind wirklich eine gute Frau« beschloss die

Nachbarin die Szene.

30

***

Zum wiederholten Male hatte Gesche gestern eine ernsthafte Auseinandersetzung

mit ihrem Hausarzt Dr. Luce, der wiederum einen

Aderlass bei ihrem Gatten Johann vorgeschlagen hatte. Dr. Luce

wusste nicht Ein noch Aus. Obwohl er ein tüchtiger und erfahrener

Mediziner der damaligen Zeit war, konnte er zwar unschwer die

Symptome des immer kränker werdenden Patienten feststellen,

deren Ursache jedoch war ihm ein Rätsel.

Nachdem schwer verträgliche Nahrungsmittel und Getränke ausgeschlossen

wurden und all dies keine Besserung erbrachte, kam

der Aderlass wieder zur Sprache. Dr. Luce hatte anfangs aufgrund

der heftigen Bauchschmerzen des Patienten auch eine Blinddarmentzündung

ins Kalkül gezogen. Die erste Blinddarmoperation gelang

nämlich einem Claudius Amyand, dem Chirurgen von George

II., in London, fast vor einhundert Jahren, nämlich 1735. Dr. Luce

hatte diese Art von Entzündungen intensiv studiert. Eine Operation

zur damaligen Zeit war jedoch sehr riskant. Und offenbar nicht nur

aus diesem Grunde hatte Gesche eine Operation strikt abgelehnt.

Die sich ständig wiederholenden Magenund Darmkrämpfe im

oberen und unteren Bauchbereich nahmen wie erwähnt ständig zu.

»Das letzte Mittel«, sagte Dr. Luce zu Gesche, »erscheint mir ein

Aderlass. Mehr kann ich nicht tun!«

Man muss wissen, dass der Aderlass eine der ältesten medizinischen

Behandlungsformen ist. Er ist seit der Zeit des Hippokrates

(ca. 460–370 v. Chr.) bekannt und galt bis ins 17. Jahrhundert als

eine der wichtigsten medizinischen Therapieformen.

Die Anwendung des Aderlasses beruhte auf zwei Vorstellungen:

Zum einen wurde angenommen, Blut könne sich in den Gliedern

stauen und verderben. »Schlechtes Blut« müsse entfernt werden.

Zum anderen wurden Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der

Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) zurückgeführt.

Durch Ausleitung bei Blutfülle und Fieber konnte nach dieser

31

Vorstellung das Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Der griechische

Arzt Galenos (glaubte, Blut sei der dominante Saft und

müsse besonders kontrolliert werden. Er stellte ein umfassendes

System auf, das die Menge des zu entnehmenden Blutes aus dem

Alter des Patienten, seinem Zustand sowie aus Jahreszeit und Wetterbedingungen

ableitete.

Im Mittelalter war die Methode durch Ärzte und Bader gängige

Praxis und wurde bis in die Neuzeit (etwa ab 1800) auch in Klöstern

durchgeführt. Das Blut wurde mittels genauer Inspektion (Hämatoskopie,

Blutschau) zu diagnostischen Zwecken benutzt, wobei man

sich frühzeitig durchaus gewisser »Risiken und Nebenwirkungen«

bewusst war. Eine weite Palette von Krankheiten wurde so behandelt;

man kann fast von einer universellen Methode sprechen. Die

Zeiten für den Aderlass und die entsprechenden Stellen am Körper

wurden nach astrologischen Kriterien festgelegt. Davon zeugen die

zahlreichen Darstellungen von sogenannten »Aderlass-Männchen«.

Die Lasstafel oder Lasszettel genannten Aderlasskalender gehören

zu den frühesten Erzeugnissen des Buchdrucks, Aderlasstafeln und

Aderlassmännlein gehörten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zur

üblichen Ausstattung von Kalendern. Sie sorgten später für Spottgedichte

und Parodien.

Im 16. Jahrhundert kam es innerhalb der europäischen Ärzteschaft

zu einem mit großer Heftigkeit geführten Aderlass-Streit,

nachdem Pierre Brissot eine von den Lehren der arabisch schreibenden

Ärzte abweichende Methode (die er auf Hippokrates zurückführte)

propagierte.

Auch nachdem der Arzt William Harvey durch die Entdeckung

des Blutkreislaufs im Jahre 1628 die Grundlagen des Aderlasses

widerlegt hatte und erste Schritte zu einer auf wissenschaftlichen

Methoden basierenden Medizin gemacht waren, blieb der Aderlass

eine verbreitete Behandlungsmethode. Selbst der berühmte Arzt

Christoph Wilhelm Hufeland empfahl ihn noch im frühen 19.

Jahrhundert.

32

Der Bader des Mittelalters verwendete Aderlass-Messer, sogenannte

Flieten, oder ab dem 15. Jahrhundert ein Gerät, dessen spezielles

Messer nach dem Anritzen der Ader zurückschnappt, den

Schröpfschnepper. Heutzutage wird Venenblut mit einer größeren

Kanüle abgenommen. Die Menge des abgenommenen Blutes liegt

zwischen 50 und 500 ml. Eine weitere Methode der Blutentziehung

ist der Einsatz von Blutegeln. Die spezielle Zusammensetzung des

Speichels des Blutegels verhindert die Gerinnung des Blutes. Allerdings

ist die entnommene Blutmenge ziemlich gering.

Einsatz in der heutigen Medizin:

Der Aderlass spielt heute nur bei wenigen Erkrankungen eine

wichtige Rolle.

In der Alternativmedizin zählt der Aderlass (wie auch das Schröpfen)

zu den ausleitenden Verfahren. Aktuell (2010er Jahre) erlebt

das Verfahren insofern eine gewisse Rehabilitation, als dass klinische

Studien erste Hinweise auf eine nicht nur vorübergehende

Wirksamkeit bei Bluthochdruck zeigen. Die dauerhafte Drucksenkung

bei regelmäßigem Aderlass, wie beispielsweise häufiger Blutspende,

soll der unter Einnahme von Betablockern in üblicher Dosierung

vergleichbar, unter bestimmten Umständen sogar überlegen

sein.

Kurios: In früheren Jahrhunderten trug der Januar die Bezeichnung

Lassmonat. Dies rührte daher, dass dieser Zeitraum von den Badern

als der geeignetste Monat für den Aderlass angesehen wurde.

Der Aderlass nach Hildegard von Bingen soll den Körper durch die

Entnahme von »schlechtem Blut« von Giften befreien, die durch

übermäßiges Essen, Diätfehler, Stress, Sorgen, Angst und Enttäuschungen

entstanden seien. Das Blut soll dadurch von »krankmachenden

Schlacken und Fäulnisstoffen« gereinigt werden. Diese

»Leistung« bieten einige Heilpraktiker an.

33

»Der Aderlass kommt auf keinen Fall in Frage«, antwortete die Ehefrau

des Patienten ihrem Hausarzt und fügte hinzu: »Versuchen Sie

lieber noch ein paar alte Hausmittel. Die sind oftmals wirksamer als

der andere neuzeitliche medizinische Unsinn!«

Dr. Luce schüttelte den Kopf und meinte: »Wir haben doch schon

alle alten Hausmittel ausprobiert und keines hat Wirkung gezeigt.«

34

Kapitel 2

Die Mäusebutter

Es war einer der wenigen schönen Herbsttage, wie man sie in

Norddeutschland selten fand. Gesche stand in ihrer Küche am Küchentisch

und stützte sich mit beiden Armen auf. Ihr Blick ging ins

Leere und tausenderlei Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

Das Gestöhne und Gejammere ihres kranken Johann drang bis zu

ihr in die Küche und ihre Gedanken sammelten sich in ihrem Kopf

zu einem Ergebnis, das da hieß: Es muss endlich Schluss sein!

Gesche wandte den Kopf hin zur offenstehenden Küchentür und

rief mit heller Stimme: »Beta komm mal her!« Die immer emsige

Haushaltshilfe, man nannte sie auch Hausmagd, war gleichzeitig

Gesches Freundin, kam zur Küchentüre herein und fragte etwas

erschrocken ob der kreischenden Stimme: »Brauchst du etwas Besonderes?«

Gesche holte ein kleines Einkochglas aus dem Küchenschrank,

das mit einem Stück Pergamentpapier, festgehalten durch einen

umlaufenden Bindfaden, abgedeckt war. Gleichzeitig kramte sie aus

ihrer Küchenschürze einen winzig zusammengefalteten Zettel, der

nur mehr die Größe eines Groschens hatte, gab beides, das Glas

und den Zettel Beta in die Hand mit den Worten: »Lauf vor zur

Aesculap-Apotheke. Du weißt schon, hundert Schritt vorne an der

Ecke, und gib dem Apotheker den Zettel. Ich habe jetzt kein

Kleingeld zur Hand, sag ihm, er soll den Betrag anschreiben. Das

tut er sicher, wenn du ihm meinen Namen sagst.«

»Mach ich«, sagte Beta etwas verwundert und legte sich im Flur

einen wollenen Umhang über die Schultern.

»Beeil Dich!«, rief ihr Gesche hinterher, als die Hausmagd schon

aus der Haustüre entschwunden war. Beta war, wie wohl die meisten

Hausangestellten, immer dann besonders neugierig, wenn es

sich wie hier um einen ziemlich undurchsichtigen Auftrag handelte.

Sie trat demnach, kaum dass sie das Haus verlassen hatte, in die

35

nächste Toreinfahrt und nestelte an dem kleinst zusammengelegten

Zettelchen, um diesen auseinanderzufalten. Er fiel ihr zunächst aus

der nervös zittrigen Hand auf den Boden. Sie hob ihn auf, glättete

das Papier und las: ‘Bitte vier große Löffel Mäusebutter und cirka

zwei Unzen (etwa. 60g) Arsenik.’ Wozu brauchte ihre Hausfrau so

viel Arsenik, wo doch das halbe Glas Mäusebutter und so eine

Menge Arsenik auf Jahre hinaus reichen musste, um Hunderte von

Ratten oder Mäusen zu vernichten.

Mäusebutter besteht aus zwei Anteilen Butterschmalz und einem

Teil Arsenik und war zu dieser Zeit ein beliebtes Mittel um unerwünschte

Lebewesen zu beseitigen. Beta schüttelte den Kopf,

faltete das Papier wieder auf ein Kleinstformat zusammen. Ein paar

Minuten später trat sie in die Aesculap-Apotheke mit einem höflichen

»Guten Morgen, Herr Apotheker«.

Die deutschen Apotheken waren im 17. und 18. Jahrhundert auch

Stätten der chemischen Forschung, in denen zunächst nach der

Methode von Versuch und Irrtum experimentiert wurde, im Zuge

der Aufklärung bedienten sich die Apotheker jedoch zunehmend

wissenschaftlich exakter Erkenntnisse und Methoden.

Die meisten der im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Arzneistoffe

stammten aus der Natur, die überwiegende Zahl davon aus dem

Pflanzenreich. Darüber hinaus wurden aber auch bereits einige

chemische Präparate, wie z.B. Eisensalze oder Quecksilberverbindungen

und Arsen verwendet. Grundlage der Verordnung war

neben dem aus sorgfältiger Beobachtung stammenden überlieferten

Wissen über die Wirkung bestimmter Substanzen oft die bis in die

Antike zurück reichende Signaturenlehre. Danach gaben die signa

naturae einer Substanz, also ihre von Gott verliehenen Eigenschaften

wie äußere Gestalt, Farbe, Geschmack, Geruch und manchmal

sogar der Ort des Vorkommens in der Natur, Hinweise auf ihre

medizinische Verwendbarkeit. So sollten z.B. Pflanzen mit herzförmigen

Blättern wirksam sein gegen Herzkrankheiten, Disteln

gegen stechende Schmerzen und rote Steine (wie z. B. Granat) und

36

Korallen gegen Blutkrankheiten oder Bluthusten. Die Schubladen

und Gefäße einer damaligen Apotheke enthielten zum großen Teil

– auch heute noch – Arzneistoffe, von denen die meisten den drei

Reichen Vegetabilia (pflanzliche Stoffe), Animalia (Stoffe tierischen,

auch menschlichen Ursprungs) und Mineralia zugeordnet sind.

Allerdings waren nur so genannte »Simplicia«, d.h., einfache Arzneistoffe

und Grundstoffe vertreten. Die normalerweise in einer

solchen Apotheke ebenfalls vorrätigen »Composita« (aus mehreren

bis vielen Grundstoffen zusammengesetzte Arzneimittelzubereitungen)

und so genannte »Geheim‑ oder Spezialmittel«.

In den Apotheken fanden sich auch manche Kuriosa. So enthielten

die Schubladen u.a. getrocknete Substanzen wie Chinarinde (die

gegen Malaria eingesetzt wurde), Franzosenholz (verwendet gegen

Syphilis) oder Simaruba‑Rinde. In den Gefäßen konnte man Edelsteine,

Bärenzähne, getrocknete Kröten und Regenwürmer, »Spanische

Fliege« und Mandragora bzw. Alraune entdecken; letzteren

wurde aphrodisiakische Wirkung zugeschrieben.

Im Laufe des 14. Jahrhunderts wandeln sich die Apotheker vom

fliegenden Händler zum wohlhabenden Patrizier, der nicht nur

Heilpflanzen, Gewürze und Drogen verkauft, sondern auch selbst

Arzneimittel in der Offizin (lat. officina) herstellt. Aus dieser Zeit

stammt auch die älteste Apotheke Europas, die noch heute an derselben

Stelle betrieben wird: Eine Urkunde von 1241 mit dem Siegel

der Stadt Trier (Landeshauptarchiv Koblenz) dokumentiert die

Schenkung einer Apotheke am Trierer Hauptmarkt. Sie trägt heute

den Namen Löwen-Apotheke.

Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten sich die deutschen Apotheken

vom Ort der Arzneimittelherstellung bedingt durch das

Wissen über die Chemie auch zu einem Ort der Arzneimittelerforschung.

Vor allem in Berlin, Thüringen und Sachsen konzentrierte

sich die pharmazeutisch-chemische Forschung und Lehre in

Deutschland.

37

Als Kuriosum sei noch Lukas Cranach der Ältere (1472–1553)

genannt. Sein Fürst, Friedrich der Weise von Sachsen, übereignete

ihm die Hofapotheke zu Wittenberg, damit er genügend Einkommen

habe, um in Ruhe seine Bilder malen zu können.

Auch an großen Geistern fehlt es im Apothekerstand nicht. Allein

nicht als Apotheker sind sie berühmt, sondern als Maler und

Schriftsteller, vor allem als Chemiker, Naturwissenschaftler, Entdecker

und Erfinder. Dass man sie aber nicht als Apotheker bezeichnet,

hat seine Ursache in der geschichtlichen Entwicklung dieses

Berufsstandes. Durch die Errungenschaften der Pharmaunternehmen

beginnt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine

Umstellung der deutschen Apotheke. Anstatt Arzneimittel selbst

herzustellen, beschäftigt sich die Apotheke zunehmend mit der Prüfung

der Qualität und Identität von Arzneimitteln und der Beratung

rund um Arzneimittel.

Besonders Reiseapotheken und Hausapotheken wurden bereits

im Mittelalter geschätzt, um alltäglichen Beschwerden in Eigenregie

zu Leibe zu rücken. Reiseapotheken wurden in größerem Umfang

bereits im 17. Jahrhundert hergestellt, heute sind hauptsächlich englische

Hausapotheken des 19. Jahrhunderts und homöopathische

Hausapotheken unterschiedlicher Größe und Ausfertigung erhalten

geblieben. Mit der Formulierung der homöopathischen Therapie

durch Samuel Hahnemann um 1800 standen im 19. Jahrhundert

neue Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, die für eine Selbstmedikation

gut geeignet waren und Hausapotheken deshalb zu noch

weiterer Verbreitung verhalfen.

Vor 200 Jahren, also etwa um die Zeit, in der unsere Gesche lebte,

führte das Königreich Bayern als erster deutscher Staat ein obligatorisches

Studium der Pharmazie ein. Anstelle einer bis dahin ausschließlich

handwerklichen Ausbildung, die in Preußen und so auch

wahrscheinlich in Bremen noch bis zum zweiten Drittel des 19.

Jahrhunderts möglich blieb, mussten angehende Apotheker nun ein

38

Studium mit theoretischen und praktischen Lehrveranstaltungen

durchlaufen.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war das Medizinalwesen in

Altbayern ständisch gegliedert. Während in großen Städten akademisch

ausgebildete Ärzte praktizierten, die nur eine internistisch

geprägte Medizin ausübten, arbeiteten auf dem Lande ausschließlich

handwerklich geschulte Chirurgen oder Wundärzte sowie auch

Bader und Barbiere. Obwohl diese nur äußerliche Krankheiten und

Gebrechen kurieren durften, zog man sie wegen des Ärztemangels

und auch wegen der nur geringen finanziellen Mittel der ländlichen

Bevölkerung häufig ebenso bei innerlichen Krankheiten zurate. Die

Apotheker des Landes erhielten wie auch in anderen deutschen

Staaten ihre Ausbildung innerhalb einer vornehmlich handwerklich

ausgerichteten Lehrzeit. Eine Ausnahme bildete damals allerdings

Preußen. Hier gab es neben den nur eine handwerkliche Lehre

absolvierenden Apothekern zweiter Klasse, die nur in kleinen Städten

und Dörfern praktizieren durften, Apotheker erster Klasse.

Diese arbeiteten in den größeren Städten des Landes und hatten

eine wissenschaftliche und laborpraktische Ausbildung am Collegium

Medico-Chirurgicum sowie in der Berliner Hofapotheke zu

absolvieren.

Die in mehreren Einzelschritten durchgeführten Reformen wurden

in dem am 8. September 1808 verabschiedeten »Organischen

Edikt über das Medizinalwesen« zusammengefasst.

Auch das in fast allen Apotheken der damaligen Zeit erhältliche

Arsen hat hier Erwähnung verdient.

Arsentrioxid, wie es fachlich richtig heißt, ist ein starkes Gift und

eindeutig krebserregend. Oral aufgenommen können bereits weniger

als 0,1 g tödlich sein. Akute Vergiftungen äußern sich nach wenigen

Stunden durch massive Durchfälle und Erbrechen. Starke

Schmerzen kommen hinzu, zunächst im Magen-Darm-Bereich,

später, nach einer Scheinbesserung, treten in den Extremitäten

Krämpfe auf. Die körperliche Schwäche nimmt beständig zu, Be

39

wusstseinstrübungen, Sehstörungen und langsames Erkalten bereits

einen Tag vor Eintritt des Todes werden registriert. Bei der Obduktion

findet man u.a. erbsenbis bohnengroße Magenerosionen an

der Magenhinterwand, wo die Giftkristalle an der Schleimhaut haften

geblieben waren.

Um Unfällen vorzubeugen, ist beim Umgang mit dieser Verbindung

unter einem Abzug zu arbeiten. Als Gegenmaßnahme bei

Vergiftungen ist der Mund auszuspülen, Erbrechen auszulösen und

sofort ein Arzt zu benachrichtigen.

Trotz der hohen Giftigkeit wurde Arsenik im 19. Jahrhundert von

‘Arsenikessern’ auch als Stimulans gebraucht. Die sich dabei herausbildende

Toleranz beruht nicht auf einer Gewöhnung des Körpers

an Arsentrioxid, sondern allein auf der verminderten Resorption

durch die Magenschleimhaut. Methodischer Wissenschaftler,

der er war, verinnerlichte ein gewisser Marsh zunächst die damals

gängigen Nachweismethoden für Arsen, die alle in Deutschland

entwickelt worden waren, und wandte sie erfolgreich an: Im Kaffee

und im Mageninhalt fand sich als sicheres Anzeichen für Arsenik

ein gelber Niederschlag, der sich in Ammoniak lösen ließ. Bei der

folgenden offiziellen Voruntersuchung gelang es mittels dieses Beweises,

die Geschworenen vom Vorliegen eines Giftmordes zu

überzeugen. Daraufhin wurde ein Verdächtiger des Mordes angeklagt.

»Gelber Niederschlag«, »Schwefelwasserstoff«, »Ammoniak«– was

für Marsh klare Beweise waren, war für die Geschworenen unverständliches

Hexenwerk. Mit Arsen vergiftet worden ist der alte Bodle?

Dann bitte wollte man das Gift sehen, ohne das gab es keine

Verurteilung. So kam es, dass der sicherlich freudig überraschte

Angeklagte freigesprochen wurde. Für den Tunichtgut Bodle bedeutete

dies freilich nur einen Aufschub: Zehn Jahre später wurde

er erneut verhaftet, diesmal wegen Betruges und Erpressung, und zu

sieben Jahren Gefängnis und Deportation in die Kolonien verurteilt.

Bei dieser Gelegenheit machte er reinen Tisch und gestand

40

den Mord an seinem Großvater. Leider – oder soll man sagen zum

Glück? – wusste James Marsh dies zum Zeitpunkt des Mordprozesses

noch nicht, er sah nur die Sachlage und die Tatsache, der Gerechtigkeit

nicht zum Siege verholfen zu haben. Tief verletzt in seiner

Berufsehre machte er sich daran, eine hiebund stichfeste Methode

zur Sichtbarmachung von Arsenik zu finden.

41

Kapitel 3

Das Erbschaftspulver

Arsen – das Erbschaftspulver.

Die Arsenherstellung ist erstmals bei Albertus Magnus (um 1200

bis 1280) um 1250 beschrieben. Er erhitzte das Mineral Auripigment

zusammen mit Seife, wobei er durch eine Reduktion metallisches

Arsen gewann. Anfangs benannte man das metallische Arsen

und dessen Oxideo der Sulfide mit dem Namen »Arsenik«. Das

chemische Symbol As wurde 1814 von Jöns Jacob Berzelius (1779–

1848) vorgeschlagen. Der Ursprung des Namens Arsen ist unklar.

Er geht entweder auf die griechische Bezeichnung Arsenikon zurück,

die von dem griechischen Arzt und Pharmazeuten Dioskurides

(lebte im 1. Jh. n. Chr.) erstmals für das Arsen-Mineral Auripigment

(As2S3) verwendet wurde oder er leitet sich vom griechischen

»arsenikos« für männlich ab. Der Name soll wahrscheinlich

auf die Flüchtigkeit und Möglichkeit des Niederschlages in metallischer

Form hinweisen oder auf die therapeutische Wirkung der

Arsen-Präparate, die bereits Dioskurides bekannt waren.

42

Kunst des Giftmordens – Werkzeug des Todes.

Seit man aber im 8. Jh. in Arabien erstmals aus dem Arsen das

weiße Arsenikpulver As2O3 hergestellt hatte, war dieses Pulver zu

einem viel benutzten Werkzeug des Todes geworden. Es erfreute

sich größter Beliebtheit, wenn es um schnelle Beseitigung unliebsamer

Zeitgenossen ging: Es war geruchund geschmacklos, leicht in

Nahrungsmitteln zu verabreichen und die Vergiftungssymptome

waren kaum von denen der Cholera zu unterscheiden, einer damals

sehr verbreiteten Krankheit. Am allerwichtigsten aber war, dass es

ohne einen Tatzeugen oder ein Geständnis des Täters keine Mittel

gab zu beweisen, dass ein Opfer wirklich durch Arsen gestorben

war. Die genaue Zahl weltweiter Arsenmorde in den vergangenen

Jahrhunderten wird aufgrund unzureichender oder völlig fehlender

Polizeiarbeit für immer verborgen bleiben, aber sie muss ungeheuerlich

groß sein. So enormer Beliebtheit erfreute sich das tödliche

Pulver, dass man es seinerzeit volkstümlich »poudre de succession«

(Erbschaftspulver) nannte. Einen unbestrittenen Höhepunkt erreichte

die Kunst des Giftmordens und die Anwendung von Arsen

in der Renaissance und den Jahren davor. In den Archiven der

Stadt Florenz zum Beispiel finden sich Namen von Opfern, Preise,

Kontrakte und Auszahlungsbelege. Die Buchführung des Todes

43

endete in der Regel mit der Notiz »factum«, die den erfolgreichen

Abschluss der Transaktion und das Dahinscheiden des Zielsubjektes

anzeigte. Nicht ganz so organisiert, aber nicht weniger pragmatisch

übte das Volk die Kunst des Giftmordes aus. Eine schillernde

Figur dieser Zeit war »Tofana«, Teofania diAdamo). Sie verwendete

im 17. Jh. ihr »Aqua Tofana« (eine Lösung des weißen Arseniks)

nicht nur für eigene Morde, sondern betrieb auch einen schwunghaften

Handel mit dieser tödlichen Ware. Das Gleiche galt für die

in diesem Buch später beschriebene Marie Madeleine Marquise de

Brinvilliers (1630–1676); auch sie mordete selbst und vermarktete

ihr »Eau admirable«.

Die Marsh’sche Probe

Etwa 30 Jahre vor Marshs Aktivitäten ging man noch davon aus,

dass verschiedene Gifte beim Verglühen oder Verdampfen charakteristisch

rochen. Man schlug also vor, verdächtige Substanzen auf

glühende Kohlen zu geben und dann den Geruch zu prüfen. Leichenöffnung

mit anschließender visueller Überprüfung des Körperinneren

waren weitere Versuche, systematisch an das Problem heranzugehen.

Bis auf wenige Ausnahmen, z.B. bei Gewebszerstörung

durch Säure, erwies sich diese Methodik in der Praxis als unbrauchbar.

Andere Techniken fielen eher durch Kuriosität als

durch Bezug zur Realität auf, zumindest aus heutiger Sicht: Der

Stadtphysikus von Berlin, Georg Adolph Welper, glaubte, dass Leichen,

die durch Arsenik gestorben waren, nicht der Fäulnis verfielen.

In den Jahrhunderten vorher tappte die Wissenschaft in völliger

Dunkelheit. Patienten galten als vergiftet, wenn sie übel rochen

oder ihre Körper blauschwarz verfärbt waren. Ein abergläubischer

Auswuchs war die Theorie, die Herzen von Vergifteten könnten im

Feuer nicht zerstört werden – Beweisführungen, die auf dieser

Theorie aufbauten, führten sicherlich in vielen Fällen zu unerwarteten

Freisprüchen. Es gab aber auch wissenschaftlichere Ansätze.

Johann Daniel Metzger (1739–1805) erhitzte schon 1787 arsenver

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dächtige Substanzen auf Holzkohlen und hielt über die entstehenden

Dämpfe eine Kupferplatte. War Arsen vorhanden, überzog

sich die Platte mit einer weißlichen Schicht aus Arsenik. Wenn er

weißes Arsen und Holzkohlen in eine Glasröhre gab und die Kohlen

in der Röhre durch Erhitzen zum Glühen brachte, wurden die

Arsenik-Dämpfe bei Kontakt mit den Kohlen wieder zu Arsen.

Dieses bildete sog. »Spiegel«, d.h., es schlug sich an den kühleren

Teilen der Röhre in metallischen Flecken von schwarzbrauner Farbe

nieder.

Den Nachweis von Arsen in menschlichen Organen versuchte

1806 Valentin Rose, Assessor des Medizinalkollegiums in Berlin.

Insbesondere beschäftigte ihn die Frage, ob man das Gift noch in

Eingeweiden und Magenwänden nachweisen konnte, wenn es den

Magen bereits verlassen hatte bzw. von der Magenwand resorbiert

worden war. Dazu zerschnitt Rose den Magen eines Vergifteten und

kochte die Stücke in destilliertem Wasser. Er erhielt einen Brei,

den er einige Male filterte und dann mit Salpetersäure behandelte,

um das »organische Material des Magens« zu zerstören. Am Ende

sollte nur das gesuchte Gift zurückbleiben. Mithilfe von kohlensaurem

Kali und Kalkwasser erhielt Rose einen Niederschlag, den er

trocknete. Analog den Metzger‘schen Versuchen gab er den Niederschlag

mit Holzkohle in eine Glasröhre und beobachtete bei

langsamem Erhitzen die Entwicklung des metallischen Arsenspiegels.

Dies war der Stand der Entwicklung eines Arsennachweises, als

Marsh seine Arbeiten begann. In der Bibliothek seiner Arbeitsstelle,

des Arsenals, fanden sich ein paar sehr vielversprechende Quellen.

Scheele, Apotheker in dem schwedischen Ort Köping, fand

Folgendes heraus: Gab man zu einer arsenhaltigen Flüssigkeit etwas

Schwefelsäure oder Salzsäure und setzte dann Zink hinzu, erhielt

man Arsenwasserstoff, der in Form eines überaus giftigen, nach

Knoblauch riechenden Gases aufstieg. Wenn man das Gas dann

durch ein Rohr leitete und erhitzte, zerfiel es wieder in Wasserstoff

und Arsen. Marsh spann Scheeles Gedanken weiter und folgerte,

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das metallische Arsen, müsste sich eigentlich auffangen und sammeln

lassen. Zu diesem Zweck ließ er sich ein U-förmiges Rohr aus

Glas herstellen. Ein Ende des Rohrs war offen, das andere mündete

in eine Glasdüse. In den Teil des Rohres mit der Düse hängte er

ein Stück Zink, dann konnte es losgehen: Marsh füllte in das offene

Ende des U-Rohres die Probelösung, die er zuvor mit Säure angereicherte

hatte. Erreichte die Flüssigkeit das Zink, entwickelte sich

Arsenwasserstoff – sogar schon bei geringsten Spuren von Arsenik.

Der Arsenwasserstoff entwich durch die Düse, wurde entzündet,

und wenn man dann eine kalte Porzellanschale gegen die Flamme

hielt, schlug sich das metallische Arsen in schwärzlichen Flecken auf

dem Porzellan nieder. Setzte man den Prozess fort, sammelte sich

nach und nach das ganze Arsen aus der Probe auf der Porzellanschale

und war – darauf kam es vor Gericht an! – wirklich greifbar.

Wer nicht glaubte, dass es Arsen war, der konnte ja mal dran lecken.

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