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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Warum wurde Chantal ermordet?20
Kapitel 2Warum hat Graf Potocki seine politische Einstellung nie geändert?32
Kapitel 3Warum weiße Hirsche, vergoldete Gondeln und ein Tarpejischer Fels unbedingt sein mussten?39
Kapitel 4Warum die Illuminati und andere `Freunde´eine Rolle spielten77
Kapitel 5Warum der Graf noch kurz vor seinem Tod so stolz war auf seinen Cousin Jan82
Kapitel 6Warum erben nicht einfach ist und ein Mann sterben musste (2. Mord)89
Kapitel 7Warum große Künstler nach Uman kamen? (Nicolo Paganini, Luigi Cherubini)108
Kapitel 8Warum Polizeikommissar Philippi den Kriminaler Vidocq empfahl139
Kapitel 9Warum die Aufklärung der Todesfälle für Vidocq so schwierig war.148
Kapitel 10Erkrankung und Tod194

 

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Rediroma Verlag

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ISBN: 978-3-96103-468-0
Preis: 9,95

Ein Garten der Lüste [Leseprobe]

und der versteckten Triebe



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Kapitel 1

Warum wurde Chantal ermordet?

Auf Schloss Tultschyn begann der Tag meist nicht vor 9

Uhr vormittags. An diesem Tag jedoch war es anders. Bereits

um 8 Uhr war die Schloss-Herrin Gräfin Cecilie Sophia

Potocka frisiert, geschminkt und angekleidet.

Es klopfte an der Tür und ihre Kammer-Jungfer -

oder sagen wir besser ihre `Kammer-Frau´ - Chantal

steckte ihren Kopf zur Türe herein und meinte

Schloss der Potockis bei Tultschyn

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„Sind Euer Gnaden reisefertig?“

„Was bist du so förmlich?“, entgegnete Sophia „Ich bin

fertig, wenn du auch fertig bist?!“

Beide gingen den langen Flur entlang bis zur Empfangshalle.

Chantal öffnete das schwere Eingangsportal und

wollte ihrer Herrin Sophia den Vortritt lassen. Diese jedoch

drehte sich noch einmal um und sagte zu Chantal

„Geh du mal voraus. Ich habe mein Schirmchen vergessen.

Es könnte regnen!“

Chantal blieb in der geöffneten Türe stehen und wartete

bis Sophia mit dem Schirm zurückkam. Sodann trat sie

forsch als Erste auf die Terrasse vor dem Portal. Einen

Schritt hinter ihr folgte Sophia. Die beiden waren keine

zwei Schritte von der Eingangstüre entfernt, da gab es ein

lautes Geräusch, das sich wie ein Peitschenknall anhörte.

Chantal griff sich an die Brust, hauchte ein „Oh Gott!“

und fiel rückwärts der Sophia in die Arme.

Beide fielen, noch ehe sie die Freitreppe erreicht hatten,

auf den Rücken. Über Sophia lag ihre Kammerzofe,

die sie im Schrecken mit beiden Armen umfasst hielt.

„Was war das“, keuchte Sophia, „hast du dir weh getan?“

Chantal rührte sich nicht und gab auch keinen Laut

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von sich. Sophia setzte sich auf und bettete den Oberkörper

von Chantal in ihren Schoß.

„Was war das? Sag, hast du dich verletzt?“ Als Chantal

immer noch keine Antwort gab, nahm sie den Kopf ihrer

Kammerfrau in beide Hände und sah, dass diese offenbar

das Bewusstsein verloren hatte. Sie hatte die Augen geschlossen

und röchelte leicht. Sophia konnte sich durch

das Gewicht von Chantal, das auf ihr lastete, nicht bewegen

und so rief sie mit lauter Stimme „Franciszek, wo

bleibst du?“ Sie hatte Franciszek, ihren Leibwächter und

Kutscher, samt eines mit ihren beiden Lieblingspferden

bespannten Jagdwagens um 8 Uhr bestellt, jedoch er war

nirgends zu sehen. Daraufhin rief sie „Pawel“, ihren persönlichen

Hausdiener, und danach rief sie „Louis!“. Sie

wusste, dass Louis, ihr Leibfriseur noch im Hause sein

musste, denn er hatte sie erst vor einer halben Stunde für

die Ausfahrt frisiert. Nichts rührte sich. Auch im Vorgarten

des Schlosses war es mucksmäuschenstill.

Da vernahm sie im Inneren des Schlosses schnelle

Schritte und der Hausdiener Pawel, ein muskulöser Mann

von 25 Jahren trat aus der Tür und rief: „Um Gottes Willen!

Madam, was ist passiert?“ „Frag nicht solange, ich

weiß es selbst nicht.“ Im gleichen Augenblick fuhr die

Jagd-Kutsche vor und Franciszek sprang vom Kutschbock.

Er lief auf das Schloss zu. Beide, Pawel und Franciszek

hoben die immer noch ohnmächtige Chantal an.

„Legt sie im Vestibül auf das Sofa“, sagte Sophia indem

sie sich aus ihrer misslichen Lage befreite.

Als Chantal auf das Sofa gebettet war, standen die beiden

Männer etwas hilflos vor der Daliegenden. Die bei

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den zitterten am ganzen Leib. Sophia jedoch behielt die

Nerven und sagte in scharfem Ton „Francek, fahr er sofort

nach Uman hinüber und hole er unseren Hausarzt

Doktor Kusnezow. Er möge sich beeilen und umgehend

hierher kommen.“

Zur damaligen Zeit, es war zu Anfang des 19. Jahrhunderts,

gab es nur wenige Ärzte, die den Titel Professor

oder `Doctor´ tragen durften, Diese waren nahezu ausschließlich

an den langsam entstehenden medizinischen

Fakultäten in Petersburg, Warschau oder Berlin beschäftigt.

Sophia bedachte den Arzt Kusnezow mit dem Titel

`Doctor´, denn sie wusste, dass er ein eifriger Forscher

auf dem Gebiet der Krankheiten und damit auf dem Gebiet

der Gesunderhaltung seiner Patienten war und er

deshalb auch anerkanntes Mitglied der sogenannten `Collegia

medica´ in Uman war. Bisher hatte man die Ärzte

als Bader oder auch schon mal als `Knochenschneider´,

als Chirurgen, bezeichnet. Es hatte sich bis dahin eine

Vielfalt von medizinischen Theorien und Systemen herausgebildet.

Freilich blieben wesentliche Teile der Humanpathologie

in den Entwicklungsanfängen stecken. Sie

bildeten aber in Laienkreisen nach wie vor die Grundlage

von Körperund Krankheitsvorstellungen. In der gelehrten

Medizin traten bereits neue Sichtweisen hinzu, wie der

Catesianismus (die Lehre vom Dualismus von

Leib/Körper einerseits und Seele/Geist andererseits), die

Latrochemie (das ist eine vor allem von Paracelsus im 16.

Jahrhundert verbreitete Nutzbarmachung der Alchemie)

und der Vitalismus (Sammelbezeichnung für Lehren, die

als Grundlage alles Lebendigen eine Lebenskraft oder

eine Seele, als eigenständiges Prinzip, annehmen. Damit

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wird ein Wesensunterschied zwischen Organischem und

Anorganischem behauptet.)

Doctor Kusnezow ging bereits seit Jahren im Schloss

Tultschyn als Hausarzt ein und aus.

Francizcek eilte davon und Sophia sagte zu Pawel

„Bleib er an meiner Seite, man weiß nicht, was noch

alles passieren könnte.“ In der Zwischenzeit hatte sich

Sophia vor das Sofa gekniet und versuchte, indem sie

Chantal mit der linken Hand unter den Rücken fasste,

diese etwas anzuheben. Da spürte sie etwas Warmes

Klebriges in ihrer Hand. Sie zog diese zurück und sah, es

war Blut. Sie horchte an der Brust der Ohnmächtigen und

vernahm keinen Herzschlag.

„Ich höre kein Herz mehr…und sie atmet auch nicht

mehr“, sagte sie zu Pawel, „was sollen wir tun?“

„Wir können nur abwarten bis der Arzt kommt“, sagte

Pawel mit brüchiger Stimme. Er schob seiner Herrin

einen gepolsterten Hocker an das Sofa heran, auf dem

Sophia Platz nahm. Sie fasste die Hand von Chantal, die

merklich kalt war. Tränen rannen Sophia über das Gesicht.

Als sie das blasse Gesichtchen von Chantal anblickte,

hing Sophia ihren Gedanken nach.

Längst war Chantal keine ihrer zahlreichen Bediensteten

und Angestellten mehr, sondern eher eine Vertraute

und eine enge Freundin geworden. Vor mehr als zwanzig

Jahren war ihr Chantal zum ersten Mal begegnet. Der

polnische Botschafter in Istanbul, Carol Boscamp Liasopolski

hatte die damals 15jährige Sophia ihren Eltern für

1550 Piaster abgekauft. Er ließ sie in der Botschaft in Etikette,

in Tanz und in mehreren Sprachen unterrichten

und gab ihr damals bereits die gleichaltrige Chantal als

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Kammerzofe zur Seite. Als die beiden jungen Damen

nach Abberufung des Botschafters Richtung Warschau

reisten und Franciszek als Kutscher und Leibwächter die

beiden nach Warschau nachbringen sollte, wurden sie

unterwegs überfallen und von Franciszek gerettet. In der

Zwischenstation, in der Festung Kemenets, hatte Sophia

den feschen und schneidigen Major Josef de Witt kennen

und lieben gelernt. Die beiden heirateten in Kamenets bei

Nacht und Nebel. De Witt löste, mit der runden Summe

von 2000 Piastern, Sophia von ihrem damaligen Reisebegleiter

du Barry aus und entführte sie unter Beihilfe von

Franciszek, dem Kutscher, nach Warschau. Sophia und

Chantal mussten sich trennen und Chantal hatte sich zwischenzeitlich

in den Reisebegleiter du Barry verliebt, mit

dem sie schließlich in Richtung Frankreich entschwand.

Einige Jahre vergingen und die beiden hatten sich aus den

Augen verloren.

Als Sophia im Jahre 1783 nach Paris an den Versailler

Hof der Königin Marie Antoinette gereist war, traf sie,

welch ein Zufall, anlässlich einer Abendveranstaltung ihre

alte Jugendfreundin und Zofe Chantal wieder. Beide fielen

sich tränenreich in die Arme und Chantal musste berichten,

dass sie sich schon kurz nach dem damaligen Eintreffen

in Frankreich von ihrem Galan du Barry getrennt

hatte. Sie war inzwischen eine Liaison eingegangen mit

einem Herzog von Toulouse, fühlte sich jedoch frei und

unabhängig. Sophia nahm dieses überraschende Treffen

zum Anlass, Chantal umgehend wieder an ihre Seite zu

verpflichten und beide waren glücklich und zufrieden,

nachdem sie das Schicksal wieder zusammengeführt hatte.

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Nun lag Chantal vor ihr. Offenbar schwer verletzt und

die Sorge und der Schmerz trieben Sophia Ströme von

Tränen über die Wangen. Es dauerte gut zwei Stunden

bis Franciszek mit Doctor Kusnezow im Schloss eintraf.

Kusnezow betrat das Vestibül, entledigte sich seiner Jacke,

stellte seinen Instrumentenkoffer neben das Sofa und

betrachtete sorgenvoll die Darniederliegende. Er fühlte

den Puls, horchte mit einem damals üblichen hölzernen

Stethoskop die Brustgegend ab, hielt der Bewegungslosen

einen kleinen Spiegel vor die Lippen. Es war kein Hauch

darauf zu erkennen. Sodann zog er die Schultern hoch,

schüttelte den Kopf und sagte mit trauriger Stimme

„Tut mir leid, Gräfin, hier ist nichts mehr zu machen –

und meine ärztliche Kunst kann hier nichts mehr ausrichten.

Die junge Dame ist tot.“

Pawel und Franciszek standen reglos hinter Sophia und

dem Arzt, während der Arzt die Bluse und das Mieder

der Toten öffnete. Unterhalb der Brust war eine kleine

rote kreisrunde Stelle zu sehen. Kusnezow zog die Wunde

mit Zeigeund Mittelfinger seiner linken Hand etwas

auseinander, sodass noch etwas Blut hervorquoll und sagte

dabei

„Das ist ein Einschussloch. Die Kugel hatte wahrscheinlich

das Herz durchbohrt und ist sicher am Rücken zwischen

den Rippen wieder ausgetreten.“ Der Austritt war

wesentlich größer als der Einschuss, was man deutlich sehen

konnte, als der Arzt die junge Frau auf den Bauch

drehte. Der Rücken war stark blutverschmiert.

„Haben Sie denn gesehen, wer geschossen hat?“ fragte

Kusnezow und richtete seinen Blick auf Sophia.

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„Nein, Doctor“, sagte Sophia, „ich habe nur ein knallendes

Geräusch vernommen, dachte aber eher an einen

Peitschenknall.“

„Haben Sie denn den Schützen nicht gesehen?“

„Nein“, sagte Sophia, „Chantal stand ja vor mir und hat

mir die Sicht versperrt.“ Offenbar war der Schütze nur

etwa zehn Schritt entfernt von der Freitreppe, wo sich

zahlreiche schön geformte Buxbäumchen befanden.

„Wahrscheinlich“, so vermutete Sophia, „hat der Mörder

aus der Deckung dieser Bäumchen heraus geschossen?“

„Da hatten Sie aber noch Glück“, sagte Kusnezow, „dass

Sie nicht auch getroffen wurden“. „Ja“, sagte Sophia nachdenklich.

Eigentlich wollte ich zuerst auf die Terrasse treten,

doch Chantal hat sich in der Eile unserer Abreise etwas

vorgedrängt und mir damit, so ist zu vermuten, das

Leben gerettet.“

„Wie auch immer“, sagte der Doctor, „wir müssen die

örtliche Polizei verständigen. Nur diese kann den Mörder

ausfindig machen. Ich kenne den Polizeikommissär von

Uman, Iwan Sokolow, persönlich. Ich werde ihn herüberschicken.

Bitte rühren Sie nichts an und lassen Sie alles so

hier im Vestibül, wie auch draußen im Vorgarten, unberührt.“

Es verging Stunde um Stunde. Franciszek hatte inzwischen

die Pferde abgespannt und die Kutsche zurück in

die Remise gebracht. Er eilte wieder zurück ins Schloss

und wollte seine Herrin keinesfalls, mit dem Gedanken

um die schreckliche Tat, alleine lassen. Pawel hatte die

Tote inzwischen bis zum Hals herauf zugedeckt und so

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warteten die drei stumm auf die Ankunft des Polizisten

aus Uman.

Sophia überlegte fieberhaft, was wohl jemanden bewogen

haben könnte, eine so harmlose und niedliche Person

wie Chantal, umzubringen. Es fiel ihr wahrlich kein Motiv

ein. War jemand eifersüchtig auf ihre enge Beziehung, die

sie zu Sophia pflegte? Wollte jemand mutwillig einfach

einen Menschen töten oder – bei diesem Gedanken

schauerte sie – hatte der Schuss doch ihr gegolten? Natürlich

hatte Sophia einen riesigen Bekanntenkreis, in dem

sich vielleicht der eine oder andere zurückgesetzt fühlte.

Einen direkten Feind jedoch konnte sie in ihren Überlegungen

nicht finden. Selbstverständlich gab es einige unter

den rund 2000 Leibeigenen, die sie beschäftigte, um den

Sofijia-Park laufend zu verschönern und auszubauen. Natürlich

gab es sicher viele unter den Arbeitern, denen der

Luxus und der Pomp, der besonders anlässlich der Feste,

die am Zaubersee veranstaltet wurden, ungerecht und

übertrieben, angesichts ihres selbst ärmlichen Lebens, vor.

Auf der anderen Seite war Sophia gerade in den Kreisen

ihrer Leibeigenen sehr beliebt, denn sie hatte sich durch

ihre Wohltätigkeit und durch ihre oft auch ganz persönliche

Hilfe große Sympathien erworben. Erst vor ein paar

Wochen hatte sie, als sie wieder einmal über Land fuhr,

um die Bepflanzungen an der Ostseite des Sees zu inspizieren,

am Wegesrand eine Frau gefunden, die da lag und

sich nicht rührte. Sophia hielt ihre Kutsche an, stieg aus

und bemerkte, dass die Frau hoch schwanger war. Diese

jammerte und stöhnte, denn es hatten bei ihr offenbar die

Wehen eingesetzt. Kurz entschlossen nahm Sophia, unter

Mithilfe ihres Kutschers Franciszek, die Frau in ihre Kut

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sche, deckte sie mit einer der Pferdedecken zu und brachte

sie umgehend in ärztliche Behandlung nach Uman. Die

junge Mutter wurde von einem Mädchen entbunden und

taufte die Kleine aus Dankbarkeit auf den Namen Sophia,

was zur Freude der Schlossherrin beitrug, als man ihr dieses

baldigst mitgeteilt hatte. Sophia nahm die kleine Erdenbürgerin

als Patenkind auf.

Sophia hatte auch bereits vor einigen Jahren festgestellt,

dass die armseligen Behausungen ihrer Untertanen

im Winter schlecht beheizt waren. Viele erkrankten und

zogen sich Erfrierungen zu. Sie kaufte, als sie dieses erfuhr,

ein paar Duzend kleiner Holzöfen und ließ sie an

die Bedürftigsten verteilen. Im Bewusstsein für die arme

Bevölkerung ein offenes Herz zu haben, ließ sie mit ruhigem

Gewissen und in aufwändiger Weise ihren Park weiterhin

luxuriös ausstatten. Sie bestellte ein Dutzend weißer

Schwäne und die schwarzen Gondeln, die auf dem Zaubersee

hin und her fuhren, gefielen ihr überhaupt nicht,

so dass sie diese sämtlich vergolden ließ.

Auch bei längerem Nachdenken konnte sie beileibe

keine bösartigen Feinde in ihrer nächsten Umgebung erkennen

und auch Chantal war dank ihres ausgeglichenen

und ruhigen, freundlichen Wesens nur von Freunden

umgeben. Ein Todfeind konnte sich auch bei ihr in keinster

Weise feststellen lassen. Als Doctor Kusnezow mit

zwei seiner Assistenten endlich eintraf, nahm er die Leiche

gründlich in Augenschein. Sodann gab er nach Rücksprache

mit dem Arzt den Leichnam frei zur Beerdigung.

Eine Leichenöffnung wurde nicht für notwendig erachtet,

denn die Todesursache war für die `Experten´ klar erkennbar.

Ursache war der tödliche Schuss, offenbar aus

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einer Pistole. Als man Chantal in eine Decke gehüllt, in

ihr Zimmer trug und sie dort aufbahrte, fiel aus ihren

Kleidern eine kleine deformierte Patrone heraus. Der

Herr Kommissär betrachtete diese eingehend und konstatierte:

„Es war eine Pistole!“

Sorgfältig wickelte er das Beweisstück in ein Taschentuch

und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden. Im

Schloss selbst waren, außer ein paar Blutflecken auf dem

Sofa, keinerlei Spuren zu erkennen, sodass sich der

Kommissär und seine Assistenten ins Freie begaben. Sie

inspizierten die Terrasse und die Freitreppe genauestens

und insbesondere den Garten vor dem Schloss. Auf den

Kieswegen vom Garteneingang bis zur Freitreppe konnte

man nichts Verdächtiges feststellen, aber einer der Assistenten

bemerkte etwa 12 Schritte vor der Freitreppe, seitlich

des Kiesweges und unterhalb eines Thujen-Strauches,

einen Schuhabdruck, sodass er den Kommissär heranrief

indem er meinte:

„Sehen Sie mal Kommissär, könnte dieser Fußabdruck

etwas mit dem Mord zu tun haben?“

„Das kann schon sein“, antwortete der Kommissär.

„Das Gras rundherum ist zwar niedergetreten, aber dieser

Schuhabdruck, der offensichtlich von einem Stiefel

herrührt, ist deutlich erkennbar. Messe er ihn genau ab,

Höhe und Breite, und mache er eine genaue Skizze.“

Nach etwa einer weiteren Stunde rückten die Polizeibeamten

ab und im Schloss beschäftigte man sich in den

nächsten beiden Tagen mit dem Vorbereiten der toten

Chantal für die Beerdigung. Chantal sollte, so wollte es

Sophia, im Kreise sämtlicher Bediensteter des Schlosses

und unter Anteilnahme zahlreicher Bauern der Umge31

bung, die Chantal persönlich kannten, nach katholischem

Ritus beigesetzt werden. Etwa drei Wochen später erkundigte

sich Sophia beim Kommissär Sokolow nach den Ergebnissen

seiner Untersuchungen. Dieser zuckte nur mit

den Schultern und bedauerte es, dass aufgrund der spärlichen

Spuren kein Verdächtiger oder gar ein Täter ermittelt

werden konnte. Die Ermittlungen verliefen im Sande

und das Leben im Schloss und im Schlossgarten nahm

wieder seinen geregelten Lauf.

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Kapitel 2

Warum hat Graf Potocki

seine politische Einstellung nie geändert?

Graf Stanisław Feliks Szczęsny Potocki war eine ambivalente

Persönlichkeit; so könnte man meinen! Diese Behauptung

jedoch wird seinem immer standhaften politischen

Handeln nicht gerecht. Er entstammte einer sehr

wohlhabenden weitverzweigten polnischen Adelsfamilie

aus der Linie Tultschyn und er war Sohn des Palatins,

(Anm.: Stellvertreter des Herrschers) von Kiew. Er galt als

durchsetzungsfähiger polnischer Magnat. Unter Magnat

verstand man einen sehr reichen Adeligen und Gutsbesitzer,

was er schließlich auch war. Es gelang ihm bereits im

Laufe seines frühen Lebens seinen ererbten Reichtum

kolossal zu vermehren, sodass er zu Lebzeiten als einer

der reichsten Großgrundbesitzer Polens galt. Potocki, mit

einem Grafentitel ausgestattet, war mehrfach verheiratet.

Seine erste Ehe mit Gertruda Komorowska blieb kinderlos,

jedoch aus der zweiten Ehe mir Józefina Amalia Miniszech

entsprangen 11 Nachkommen.

Im Jahre 1791 lernte Potocki nun die wunderschöne,

gerademal 31 Jahre alte, Sophia - damals noch verheiratete

de Witt - kennen. Er war vom ersten Augenblick an wie

verzaubert. Es war eine Tanzveranstaltung der gehobenen

polnischen Kreise. Sophia war hierzu von dem russischen

Fürsten und Generalfeldmarschall Grigori Alexandrowitsch

Potjomkin (Anm.: auch Potemkin genannt) einge

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laden. Potemkin war berühmt durch seine militärischen

Fähigkeiten und Erfolge, und nicht zuletzt als Geliebter

der russischen Zarin Katharina in früheren Zeiten.

„General….“, sagte Potemkin, mit dem Sophia zu dieser

Zeit gerade liiert war, mit einer ausholenden Handbewegung,

„….darf ich Ihnen eine der schönsten Damen unserer

Zeit vorstellen – Madame Sophia de Witt, „…und das

ist…“, sagte er zu Sophia gewandt, indem er den Besucher

am Arm nahm „….das ist General der Artillerie, seine Exzellenz

Fürst Stanislaw Feliks Szczęsny Potocki, ein Anhänger

und Freund unserer russischen Zarin Katharina.“

Der sonst, mit seinem Reichtum im Rücken, so selbstsichere

und stattlich daherkommende Generalleutnant

Potocki verlor beim Anblick der schönen Sophia fast die

Contenance. Er schlug die Haken zusammen, ergriff fahrig

die Hand, die ihm Sophia huldvoll entgegen hielt und

stammelte undeutliches Zeug.

„Ich habe leider nicht verstanden, was Sie gesagt haben,

Fürst“, sagte Sophia mit einem verzeihend wirkenden

Blick.

„Vergeben Sie mir, Madame, Ihr Anblick hat mich

überwältigt…und ich bin überaus glücklich, heute ihre Bekanntschaft

gemacht zu haben.“

„Ah, jetzt habe ich verstanden!“, nickte Sophia und bot

ihm den freien Stuhl neben sich an. Potocki ließ sich nieder,

ordnete den Degen an seiner Seite. Er hatte seine

Gerenalgalauniform angezogen und neigte sich sogleich

wieder Sophia zu, ohne Potemkin, der etwas hilflos dem

Tête-à-Tête zusah, eines Blickes zu würdigen.

Potocki ließ Potemkin stehen und brachte ohne lange

zu fragen Sophia nach Hause. Er ließ bei Sophia seine

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ganze Erfahrung und seinen ganzen Charme sprühen, der

in weiten Gesellschaftskreisen bekannt war. Nicht weniger

als Potemkin folgte Potocki einer einmal ins Auge gefassten

Absicht ohne Umschweife. Seine Begeisterung an der

soeben kennengelernten Sophia de Witt kannte keine

Grenzen. Seine Komplimente waren immer elegant, nie

aufdringlich und er hatte es sich wohl vom ersten Augenblick

an zum Ziel gesetzt, diese wunderschöne, amüsante

und reizende Frau ganz zu erobern. Ein `Blender´, das

konstatierte Sophia, war Potocki keineswegs. Er war ein

fundierter Edelmann, der nicht zuletzt dank seines großen

Vermögens ein selbstbewusstes Auftreten vor sich her

trug. Potocki war sprachgewandt und war in der Lage mit

seinen internationalen Erfahrungen und Kenntnissen,

fließend in mehreren Sprachen zu parlieren. Am Morgen

nach ihrer ersten Nacht überbrachte ein Bote einen gewaltigen

Strauß mit zweihundert dunkelroten Rosen, anhängend

ein kleines Billet, nur mit den Worten `Meiner Angebeteten

´.

Potocki wollte Sophia ganz besitzen und suchte deshalb

schon sehr bald die Begegnung mit deren Ehemann de

Witt. Bis zum Treffen der beiden Konkurrenten vergingen

einige Wochen. Josef de Witt war Kommandant der

Festung Kamenets im Süden des Landes. Er begab sich,

nach Erhalt eines entsprechenden Schreibens von Potocki,

umgehend nach Warschau. Die beiden unterschiedlichen

Männer standen sich schließlich an einem Dienstagabend

im Juni des Jahres 1791 gegenüber. Was sie

beide verband waren zwei Dinge: einmal ihre Affinität

zum Militär und außerdem natürlich ihre Liebe zu einer

der schönsten Frauen ihres Zeitalters; wenngleich sie sich

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auch in der Liebe zu dieser wunderbaren Frau deutlich

unterschieden. De Witt war natürlich anfänglich auch von

Sophia begeistert, sonst hätte er sie nicht in Kamenets von

ihrer Botschaftsbegleitung auf so unkonventionelle Weise

herausgelöst. Doch seine Liebe war immer davon gekennzeichnet,

dass er sich – nicht besonders begütert - stets

einen wirtschaftlichen Vorteil von der Verbindung mit

einer solch schönen und gescheiten Frau versprach. Das

war auch der Grund dafür, dass de Witt Sophia entsprechend

seiner Beziehungen in hohe und höchste Kreise in

die europäische Gesellschaft einführte und ihr so die bereits

beschriebenen Audienzen am Warschauer Hof, am

französischen Hof und am Kaiserhof in Wien ermöglichte.

Er dirigierte schon nach kurzer Zeit ihrer Verheiratung

Sophia wie ein wertvolles Vorzeigestück und bemerkte

dabei kaum, dass Sophia sich immer eine große Portion

an Selbständigkeit bewahrte.

Anders der Graf Potocki. Dieser war vom ersten Augenblick

an in Sophia bedingungslos verliebt, sodass er,

seinem Wunsche folgend, sie ganz zu besitzen, überlegte,

wie er seine Angebetete aus den Fängen de Witts herauslösen

könnte. General de Witt, das war bekannt, hatte

hohe Spielschulden und war immer knapp bei Kasse.

Dieses ausnützend, traf Potocki bei einer der nächsten

Besprechungen mit einem Mahagoni-Kästchen unter dem

Arm ein, das er vor de Witt auf den Tisch stellte.

„Sie wissen, Verehrtester …“, begann Potocki seine Rede,

„…dass ich Ihre Frau Sophia voll und ganz begehre,

denn wir lieben uns!“ De Witt grinste etwas unverschämt

und wackelte mit dem Kopf, indem er auf das Kästchen

schielte.

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„Was ist damit?“, fragte er seinen Kontrahenten. Dieser

öffnete den Deckel. Das Kästchen war innen mit dunkelrotem

Samt ausgeschlagen und hatte zwei Fächer. Im linken

Fach lagen zwei silberbeschlagene Pistolen und im

rechten Fach häufte sich ein Packen Geldscheine.

„Sie entscheiden…“, sagte Potocki, „…entweder wir duellieren

uns, wie das seit Generationen üblich ist oder sie

nehmen von mir ein kleines Geschenk an. Hier liegen vor

Ihnen 5000 Rubel“. De Witt wurde blass und konnte seine

Augen nicht mehr von den Geldscheinen wenden. „Ich

glaube…“, sagte er, „…mit einem Duell ist uns beiden

nicht gedient, denn einer bleibt meistens auf der Strecke.

Also entscheide ich mich für Ihr großzügiges Angebot und

nehme das Geld.“

Der Graf reichte de Witt die Hand; der schlug ein und

der Handel war perfekt.

Potocki war überglücklich und vergötterte seine Sophia

von Anfang an. Als er ihr noch am gleichen Abend die

frohe Botschaft überbrachte, überreichte er ihr ein PerlenCollier mit hundert großen Edelperlen von denen jede

wohl 80 oder 90 Rubel wert war.

Feliks Potocki und Sophia lebten in den nächsten Jahren

harmonisch zusammen. An eine Heirat war aber zunächst

nicht zu denken, denn solange die zweite Frau Potockis

noch lebte und da bei ihr der Großteil der elf Kinder

wohnte, mochte Potocki nicht an eine Trennung denken.

Auf der anderen Seite war eine Scheidung zur damaligen

Zeit nicht einfach und so musste sich auch Sophia

einige Jahre gedulden, bis die Scheidung von ihren Ehemann

de Witt über die Bühne gegangen war.

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Wenn er auch in seinem Leben zahlreiche Volten

schlug, kann man den Grafen Potocki, wie erwähnt, nicht

als ambivalent bezeichnen. Er galt zwar als liberaler Aristokrat,

jedoch war er stets ein Gegner politischer Reformbewegungen,

und so stand er deshalb auch den Reformbestrebungen

des polnischen Königs Stanislaus II. Poniatowski

kritisch gegenüber. Er verband sich 1788 mit den

ebenfalls sehr reichen Grundbesitzern Franciszek Ksawiry

Branicki und Seweryn Rzewuski, mit denen zusammen er

eine Art föderaler Republik, natürlich immer unter der

Kontrolle der Magnaten, anstrebte, was ihm allerdings

nicht gelang. Seit 1774 bekleidete er eine Anzahl öffentlicher

Ämter. Er war daneben Generalleutnant und seit

1789 General der Artillerie. Er ging 1791 nach Wien und

protestierte ganz öffentlich gegen die polnische Verfassung,

jedoch seine Absicht, hierfür Unterstützung durch

Kaiser Leopold II. zu erreichen, war vergeblich. Er galt in

polnischen Kreisen als ewiger Unruhestifter. Von seinem

Schloss bei Tultschyn aus leitete er militärische Operationen

der sogenannten Konföderation von Targowica. Die

Konföderation von Targowica ist eine am 27. April 1792

in St. Petersburg von einem Teil der polnischen Magnaten

unter dem Patronat der Kaiserin Katharina II. abgeschlossene

und für zwei Tage später in Targowica verkündeten

Konföderation. Die Zarin Katharina II. nahm dieses als

willkommenen Anlass, zur zweiten Teilung Polens und in

Polen sah man durch die Aktivitäten Potockis den Tatbestand

des Verrates gekommen. Potocki musste nach Russland

fliehen und das höchste polnische Gericht verurteilte

ihn in Abwesenheit als Staatsfeind und Verräter zum Tode.

Sein gesamtes Vermögen wurde konfisziert. Das

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machte ihm nichts aus und er empfand es sogar als Sieg,

dass man in diesem Zusammenhang ein Bild von ihm

symbolisch an einen Galgen genagelt hatte. Nach der dritten

polnischen Teilung wurde Potocki 1795 im Beisein

von Sophia innerhalb einer großen Feierstunde von Katharina

II. zum General ernannt. Er erhielt, nachdem die

Zarin wieder die Herrschaft über Polen erlangt hatte, nun

seine gesamten Güter wieder zurück.

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